: Kritik auf den eigenen vier Wänden
Mit ihrem Projekt „Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle“ widmet sich die „Kokerei Zollverein“ in Essen unterschiedlichen Formen des politischen Engagements im öffentlichen Raum. Und setzt sich auch mit ihren ungewöhnlichen Präsentationsformen von herkömmlichen Ausstellungen ab
von JULIA GROSSE
Wer dieser Tage nach Essen ins Ruhrgebiet kommt, wird immer wieder ein weißes Plakat mit dem Foto eines Mannes sehen. Muss man ihn also kennen? Ist es ein Politiker? Ein Designer? Ein Musiker? In den kommenden Wochen wird die Künstlerin Rebecca Forner, die für das Plakat verantwortlich ist, das Rätsel klären, indem sie dem unbekannten Gesicht auf weiteren nachfolgenden Plakaten immer etwas mehr an Informationen hinzufügt. Name, Alter und in einem letzten Schritt erst, wird sie den Grund der Abbildung im öffentlichen Raum nennen: Der Mann ist eines von 120 nichtdeutschen Opfern, die seit 1989 durch rechte Gewalttaten starben.
Forners wichtige „Dokumentation der Opfer rechter Gewalt“ ist eine von mehreren höchst interessante Arbeiten, die noch bis 28. September im Rahmen von „Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle“ in der Essener „Kokerei Zollverein. Zeitgenössische Kunst und Kritik“ vorgestellt werden. Nach den zwei vorausgegangenen Projekten „Arbeit, Essen, Angst“ und „Campus 2002“ widmet sich das Team um den künstlerischen Leiter Florian Waldvogel und den Leiter Kommunikation Marius Babias jetzt der Frage nach den symbolischen Handlungsebenen, die politisch-künstlerischen Aktionen nutzen, und der Frage, wie diese Aktionen in der Öffentlichkeit und den Medien vermittelt werden. Als dauerhaftes Konzept will die „Kokerei Zollverein“ dem Besucher neue Wege der Informations- und Wissensvermittlung erschließen, indem auch jenseits der Projektzeiträume wiederkehrende Themen ausführlich in begleitenden Readern vertieft werden.
Das Jahresprojekt der „Kokerei Zollverein“ arbeitet damit nicht zuletzt der Tendenz mancher Museen entgegen, kritische Kunst als eine Art Lifestyle zu präsentieren. Eine intensivere Auseinandersetzung über die Zeit der Ausstellung hinaus gibt es dabei selten. Denn mag ein Museum die volle Verantwortung tragen für ein kritisches Werk, das mit Hilfe öffentlicher Strukturen gegen diese Strukturen opponiert? Manchmal kommt es gar nicht erst so weit. So berichtete die Künstlerin Silke Wagner bei der Podiumsdiskussion zur Eröffnung von „Die Offene Stadt. Anwendungsmodelle“ von ihrem Kontakt zum Kunstverein Wolfsburg. Wagner sollte dort ihre Arbeit vorstellen, eine Broschüre mit Tipps zur „Schutzehe“, also der aufenthaltsrechtlich bedingten Hochzeit. Kurz vor Beginn schaltete sich die Stadt Wolfsburg ein und forderte den Rückzug der Broschüre, da sie zu einer Straftat anstifte. Der Kunstverein reagierte: Wagners Projekt wurde nie gezeigt.
In Essen ist eine Arbeit zu sehen, die durchaus auf ähnliche Ablehnung stoßen könnte. Das Video „Paris Mabuse Visit Tour“ des Künstlers Renaud Auguste-Dormeuil von 2000 ist eine alternative Touristenrundfahrt entlang der Standorte von Videoüberwachungskameras an öffentlichen Gebäuden. Diese Punkte zeichnete er zuvor in Stadtpläne ein, sodass man sich mit Hilfe der Verweise unbeobachtet durch die Stadt bewegen kann. Arbeiten wie die von Auguste-Dormeuil verlagert man in Essen an schlichte Tische an der Wand. Das widerstrebt vielleicht der klassischen Präsentationsform eines Museums, aber genau darum soll es ja auch gehen. Wer genügend Zeit mitbringt, hat hier die Chance zur intensiven Auseinandersetzung.
Zudem fordern die eher ungewöhnlichen Raumsituationen der 1993 stillgelegten Kokerei ohnehin einen völlig anderen Präsentationsansatz. Auf den verrußten, hohen Wänden der Bunkerebene hat der rumänische Biennale-Teilnehmer von 1999, Dan Perjovschi, mit Kreide einen großen persönlichen Kommentar zu den Weltnachrichten der vergangenen Monate hinterlassen. Zunächst sehen die Kreideskizzen aus wie Kinderzeichnungen an tristen Häuserwänden trister Großstädte. Doch hier wird die Form zur Falle: Strichmännchen tragen Schutzmasken gegen Sars-Viren, oder sind es zu Accessoires umkodierte Masken für die Love Parade? Zwei Bomben unterhalten sich: „We almost did it in Cuba, let’s try it in IRAK or North Korea or Cashmir“, an einer anderen Wand stehen die Namen „Superman, Rambo, Terminator, Batman, Donald Rumsfeld, Donald Duck“. Perjovschis Werk ist ein Zeitdokument, ein grotesker, thematisch durchmischter Rundumschlag. Die Wände sprechen, plappern, lachen, lästern. Ende September wird ein Schlauch sie wieder verstummen lassen.
Das Zeichen als mögliche politische Aussage thematisiert auch das deutsche Produktionskollektiv „political.rhyme.practice“. In der Trichterhalle der Kokerei veranstalten sie in den folgenden Wochen Workshops zur Siebdrucktechnik und Formen politischer Artikulation über Kleidung. Sehenswert ist die vom Kollektiv entwickelte T-Shirt-Kollektion. Auf einem Oberteil erkennt man lediglich eine aufgenähte Linie und einen kleinen aufgedruckten Fleck: Die Linie ist der Äquator, der Fleck ein Land, das noch immer gegen Menschenrechte verstößt.
In seiner Schlichtheit könnte es ebenso gut ein Shirt von Nike sein. Der Motiv-Entwurf der Künstlerin Silke Wagner zeigt die politische Aktivistin Angela Davis mit Protestschild. Doch das Schild ist leer. Denn ähnlich einem Barbie-Set mit speziellen Kleidern für jeden Anlass gibt es für Wagners Demo-Shirt drei verschiedene Protestsprüche zum Aufpappen gleich dazu. Heute Castor, morgen Antifa, und immer passend gekleidet. Hier verbindet sich eine ironische Anspielung auf „Kombi“-Mode mit der Aufforderung, sich für politische Aktionen eben genau solcher kommerzieller Strategien zu bedienen.
Auch in diesem Jahr wird es wieder Besucher geben, die das Jahresprojekt in Essen mit einer Ausstellung verwechseln und sich wundern, warum es hier Reader anstelle eines Katalogs gibt. Doch progressive Modelle wie das der Kokerei sind wichtig, denn sie formulieren einen Gegenentwurf zu den konsumfreundlichen Konzepten vieler Museen. Und wem es in Essen zu „unsinnlich“ war, erholt sich in der nächsten Malereiausstellung.
Bis 28. SeptemberSehr guter Statement-Reader: 15 €Ľwww.kokereizollverein.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen