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Archiv-Artikel

Eine Runde U-Boot für den Frieden

Zieht ein Türke aus, zieht ein Pole ein: Neukölln wird schleichend polonisiert und damit zum Hort der Zivilisation. Denn erst wenn der letzte Deutsche auf einem polnischen Kneipentresen eingeschlafen ist, wird in Europa für immer Frieden herrschen

VON JÖRG SUNDERMEIER

Nicht allen behagt die EU-Osterweiterung. Zwar gibt es durchaus Menschen, die den Satz „Zivilisation wird es in Deutschland erst geben, wenn Frankreich an Polen grenzt“ richtig finden. Doch die meisten haben einfach nur Angst. So schrieb etwa eine aufgebrachte deutsche Dichterin vor rund fünf Jahren: „Berlin ist eine polnische Hauptstadt.“ Sollte sich ein kühner antideutscher Traum erfüllt haben? Nein, die Dichterin meinte es bildlich. „Ziehen in Berlin aus einer Wohnung Türken aus, dann ziehen Polen in die Wohnung ein. Immer sind erst die Türken da, dann die Polen.“ Stimmt das? Der Ressentimist weiß, dass Berlin-Neukölln eine türkische Hauptstadt ist. Ist Neukölln daher also ein Ort der fortschreitenden Polonisierung?

Ja. In meinem Haus findet sich der Beweis. Die Kneipe „Anja“. Ein Etablissement, in dem keine Anja arbeitet, das einem Wiktor gehört, der Pole sein soll und Türkisch spricht und der vis-à-vis den „Club Iris“ betreibt. Wiktor wiegt mindestens 140 Kilo, ist dennoch flink und er telefoniert immerzu. Oder er trinkt Bier. Doch nie zu viel, immer nur drei bis vier Gläser, wenig für diesen Körper. Wiktor ist nie betrunken. Er schwankt nie. Er wird nie laut. Er redet ausschließlich mit seinem Mobiltelefon. Wiktor ist einer der vielen kleinen Paten von Neukölln. Er ist der erste Vorbildpole, denn er stiftet den Ort.

Wiktor ist der Einzige bei „Anja“, der nicht viel trinkt. Alle anderen trinken Unmengen. Weniger weil „Anja“ eine Kneipe in Nord-Neukölln ist, nein, es sind Wera und Dominika, die alle, die in den Laden geraten, zu Trunkenbolden machen. Und das nicht mit Bier, sondern mit „U-Boot“, einem Getränk, das man höchstens mit 16 getrunken hat. „U-Boot“, das ist ein mittelgroßes Bier, in dem ein Schnapsglas mit Wodka versenkt wird. „U-Boot“ macht aus Männern und Frauen Kinder.

Die beiden Göttinnen, die ihre vornehmlich aus Polen bestehende Kundschaft Abend für Abend entmenschen, sind übrigens verwandt. Wera ist die Nichte von Dominika. Bedient Dominika, trinkt Wera an der Theke; ist Wera die Hausherrin, dann bestellt Dominika „U-Boot“ um „U-Boot“. Die drum herum sitzenden Männer sind selbstverständlich ausnahmslos verliebt in Tante und Nichte und tun es den Begehrten gleich. Doch Dominika und Wera, die erschreckend dünn sind und ein bisschen aussehen, als seien sie zu stark geschminkte Models, beweisen eine Trinkfestigkeit, die ihresgleichen sucht. Beide sind das zweite Vorbild.

Denn sie erziehen ihre Kundschaft. Jeden Abend ab 22 Uhr kann man mindestens einen Mann an der Theke schlafen sehen, er pöbelt nicht, er schlägt sich nicht, er ist lediglich eingeschlafen. Das dritte Vorbild. Kippt er zur Seite und droht sich in verschlafender Liebe an einen anderen Gast zu lehnen, kommt bald jemand von einem der Tische herüber, richtet den Komatösen sacht auf, spricht ein paar beruhigende Worte, entschuldigt sich für seinen „Bruder“ und setzt sich wieder. Letzterer nun ist Vorbild vier.

Die deutschen Kunden haben trotz dieser Vorbilder noch nicht begriffen, wie man sich gut benimmt. Doch sie lernen. So etwa mein Nachbar, ein Lutz. Er erklärt Abend für Abend, er möchte Wera oder Dominika heiraten (je nachdem, welche gerade bedient). So ist der Lutz, so will er sein. Doch ein solches Benehmen ist bei „Anja“ nicht geduldet. Daher wird Lutz einerseits ignoriert, andererseits mittels „U-Boot“ auf den rechten Weg gebracht. Bald schläft auch er am Tresen.

Jurek, der nur wenig Deutsch spricht, hat ein T-Shirt an, das dem Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft nachgestaltet ist. Annette und ich machen ihn darauf aufmerksam, als er sagt: „Nicht übel nehmen. Aber! Ich hassen die Deutschen.“ Er lacht. Einmal „U-Boot“ für alle. Dann müssen auch wir schlafen.

„Lebt ein Pole nicht in Polen, weil er in Polen nicht leben kann, dann lebt er in Berlin. Darum leben fast alle Polen hier.“ Schreibt die Dichterin. Sie zieht einen Lutz den Polen vor. Ich nicht. Denn die hiesigen Polen haben eine Mission. Sie verlassen Polen aus nationalistischen Gründen. Zu oft ist ihr Land überfallen worden, nun wollen sie dafür sorgen, dass das nicht mehr geschieht. Sie laden Lutz und seinesgleichen, also auch mich, gern ein.

„U-Boot“ macht ruhig. Wer ruhig ist, ist nicht lästig. Auch nicht für die Nachbarn. Von Neukölln aus bringen die Polen den Frieden nach Europa.