Dreck ist eine zeitlose Wahrheit

Dienst am „Dirt“, bis du in die Knie gehst: Iggy Pop und seine Stooges ließen in der Columbiahalle die Zeit stehen und alles andere nichtig erscheinen. Ihr Material ist immer noch genauso anbetungswürdig wie Iggys kleiner weißer Arsch

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Beseelt beschwor der kleine, alte, wilde Sack den Moment: „It’s 1969, Baby. It’s 1969, Baby, It’s 1969, Ba-by!“ Und wir sangen innerlich mit: Genau. 1969, yeah! Doch dann meldete sich eine zweite innere Stimme. Sie sang auch: „Es ist aber doch genau fünf-und-dreißig Jahre später. Fünfunddreißig Jahre, Baby. Es ist nicht 1969, Baby!“ Beide Stimmen harmonierten gut, feuerten sich gegenseitig an. Während Iggy auf die Backline sprang, Verstärker umwarf, die Luft fickte und seinen kleinen weißen Arsch anbot. Was er seit fünfunddreißig Jahren halt so macht.

Aber er hat auch das gemacht, was alle machen: sich entwickeln. Er ist in Rollen geschlüpft (Idiot, amerikanischer Cäsar), hat Rollen im Dienste der Selbstfindung abgelehnt, hat sich als Konservativer geoutet, dann wieder als Revolutionär, hat es als Teenie-Star versucht und dann wieder als gut gebauter und bartloser Dylan für die gealterte Punk-Generation. Er hat ein OEuvre. Doch seit etwa zwei Jahren tourt er mit dem Brüderpaar aus seiner allerersten Band und macht uns glauben, es sei 1969.

Das Konzept ist ziemlich einzigartig. Iggy Pop hat diese Re-Union der Stooges nicht nötig, er könnte mit fähigen jungen Leuten einen bunten Strauß Ditties aus seinem reichen Werk vortragen. Statt dessen spielte er mit seinen Kinderfreunden, Ron und Scott Asheton, ausschließlich das Material der ersten beiden LPs. Erst gegen Ende kamen zwei der markanteren Stücke aus der neusten CD dazu.

Und dann, meine Damen und Herren, wurde es werktreu. So gut es ging, der Sound war nicht immer so gewaltig wie diese Songs: Musik, die in den späten 6oern, frühen 70ern zu früh war, und heute immer noch nicht zu spät ist. All das anbetungswürdige Material, vor dem die späteren Punk-Revolutionäre in ihrer Jugend gekniet haben: es war wieder zum Knien.

Bei „No Fun“ hatten Jugendliche aus dem Publikum auf die Bühne gefunden, umtanzten den kleinen Meister und versuchten seine Oberkörperentblößungen zu überbieten. Dann gab es etwas, was ich „gestütztes Stage-Diving“ nennen würde. Iggy übergab seinen zusehends einem mit Thüringer Lebensmittelfarbe bestrichenen Nacktmull immer ähnlicher werdenden Körper an die Massen. Die Bouncer stets in aller nächster Nähe: Dass der uns nicht verloren geht. Bei „I Wanna Be Your Dog“ begannen auch die massigen Biker neben mir ihr Fleisch zu schütteln. Die Columbiahalle konnte das leichte Erdbeben, das Süddeutschland in derselben Nacht erschüttern hatte, mühelos ausbeben.

Man kann sich auf einen alten Song beziehen, indem man ihn sich in einer der neuen Lage entsprechenden Version anverwandelt – so wie Dylan das macht. Oder indem man die Behauptung von seiner zeitlosen Wahrheit aufstellt – so wie die verschiedenen Interpreten von „My Way“ es zu tun pflegen. Aber es gibt auch diesen hyperaktualistischen Werkbegriff, demzufolge ein Pop-Song so wahr und großartig ist, dass niemand, der ihn sang, spielte oder seine Größe schmeckte, auch nur drei Monate später noch derselbe ist.

So wird eine Rekonstruktion nur um den Preis der Lächerlichkeit möglich. Iggy und seine Stooges tun aber so, als wären sie heute in der Lage, uns einen monumental-momentanen Pop-Song mit genau der Zuständigkeit vor die Füße zu säbeln wie damals den Mitmenschen in Michigan. Und dabei hatten sie zwei der Songs auch noch in weiser Voraussicht nach Jahreszahlen benannt: „1969“, „1970“.

Während dessen spielte den Bass der einzige Fremdkörper: der große und dramatisch abgemagerte Mike Watt (Minutemen, fIREHOSE, Punk-Rock-Forscher und -Lordsiegelbewahrer). Watt spielt in vier Bands Stooges-Material: mit den Stooges, mit den Asheton-Brüdern ohne Iggy, dafür mit J Mascis, mit seinem eigenen Trio und mit einem Free-Jazz-Trio um Nels Cline.

Dabei geht es Watt immer um das Göttliche im Heroin-Punk, er liest die Stooges von John Coltrane her: Als sein Geburtsjahr nennt Watt das Jahr, in dem Coltrane sich das Heroin abgewöhnte. Der Stooges-Punk ist gerade weil und wenn er sich im Dreck wälzt für ihn eine spirituelle Erfahrung. Dienst am Höchsten, Dienst am „Dirt“. Die Asheton-Brüder schauen ihm zu und sehen dabei aus wie Michael Moore und seine Gegenstände: wie Waffennarren und Milizionäre, gleichzeitig aber auch wie Kritiker von Waffennarren und Milizionären.

Dann, endlich, spielen sie „Dirt“. Und „Dirt“ ist, anders als die anderen Stooges-Songs, nicht nur so ziemlich das Größte, was Menschen je geschaffen haben, sondern eben viel, viel mehr. Es geht wie ein schwerer silbriger Wind durch diese Wirklichkeit und lässt für einen sechs Minuten langen Moment all die anderen kulturellen Tätigkeiten dieser emsigen Kulturstadt unendlich nichtig in den Abgründen der Zeit verschwinden.