: Zeit für K(l)assenkampf
Rot-Grün muss Beitragssenkungen erzwingen. Sonst glaubt keiner mehr an Deutschlands Reformfähigkeit
aus Berlin ULRIKE WINKELMANN
Eine niedliche kleine Krankenkasse ist die BKK Essanelle, und sie ist auch die jüngste in der Familie der Betriebskrankenkassen, die den großen Krankenkassendampfern wie DAK und AOK mächtig Konkurrenz machen. Am 1. Juli vergangenen Jahres gegründet, lockte die BKK Essanelle seither 180.000 Versicherte mit einem günstigen Satz von 11,9 Prozent an. Nur zum Vergleich: Die AOK Berlin etwa will von ihren Mitgliedern derzeit 15,5 Prozent.
Ab heute jedoch wird die BKK Essanelle 12,8 Prozent verlangen – macht ein Plus von 0,9 Prozentpunkten. „Wenn wir seriös wirtschaften wollen, müssen wir das tun“, erklärt der Vizevorstand Guido Frings. Die Kosten seien halt gestiegen: Zur BKK Essanelle haben, wie das so üblich ist, zwar vor allem flexible, sprich junge und gesunde Menschen gewechselt. „Aber die bleiben ja auch nicht ewig gesund“, sagt Frings. Außerdem hätten sich die Verwaltungskosten natürlich durch den Ansturm der Versicherten erhöht.
17 Betriebskrankenkassen erhöhen heute ihre Sätze, und am 1. September und 1. Oktober werden dies voraussichtlich noch weitere der insgesamt 320 gesetzlichen Krankenkassen tun – und nicht nur die Betriebskrankenkassen. Zu stark ist der Druck, der allen Kassen im laufenden Jahr durch Arbeitslosigkeit, sprich ausbleibende Beiträge, und steigende Kosten, etwa für Arzneimittel, entstanden ist. Die Barmer Ersatzkasse und die DAK gelten als hoch verschuldet. Gegenwärtig steht der Pegel des Durchschnittssatzes bei rund 14,3 Prozent. Bis Ende des Jahres, das haben alle Kassenkenner immer gesagt, werde dieser Pegel auf 15 Prozent steigen.
Bekannt war dies auch den Politikern von Regierung und Opposition, die bis Mitte Juli die „Eckpunkte zur Gesundheitsreform“ ausgehandelt haben, welche zum kommenden Jahr Gesetz werden sollen. In ihren Eckpunkten haben sich Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und der Verhandlungsführer der Union Horst Seehofer (CSU) festgelegt: Das „Finanztableau“ sieht vor, dass dank der vorgesehenen Einsparungen von zehn Milliarden Euro im Jahr 2004 die Beiträge auf 13,6 Prozent sinken können. Bis zum Jahr 2007 sollen die Beiträge dann auf 13 Prozent – oder, wie Schmidt vor wenigen Tagen behauptete, sogar auf 12,15 Prozent – gedrückt werden.
Am Beitragssatz hängt nun das Wohl der Gesundheitsreformer: Sinkt er nicht – sinken also die Lohnnebenkosten nicht –, ist nicht nur die Reform gescheitert, sondern auch die rot-grüne Regierung mit ihrem Versuch, Arbeitgeber und Wahlvolk von ihrer wirtschaftlichen Kompetenz zu überzeugen. Entsprechend alarmiert waren Schmidt und Seehofer, als einige Kassen ankündigten, sie begrüßten die Sparmaßnahmen und würden damit gerne – wie gesetzlich gefordert – ihre Schulden abbezahlen. Dann könne der Beitragssatz „stabil“, sprich unverändert bleiben. Am Mittwoch rauften sich Gesundheitsstaatssekretär Klaus Theo Schröder und die Kassenchefs zusammen: Die Kassen dürfen ihren Schuldenabbau über vier Jahre „strecken“, dafür erklären sie öffentlich, dass die Beiträge sinken. Ja, „auch eine Senkung um 0,7 Prozentpunkte ist nicht unrealistisch“, presste AOK-Chef Hans-Jürgen Ahrens gequält hervor.
Dabei handelt es sich natürlich bloß um eine Behauptung. Lieber hätten viele Kassen ein Jahr abgewartet, was die Effekte von Gesundheits- und Arbeitsmarktreform noch bringen. Schließlich werden viele Versicherte versuchen, in diesem Jahr noch Leistungen zu bekommen, die ab dem nächsten Jahr entfallen: Brillen, große Arzneimittelpackungen, vielleicht auch Dinge, für die eine Teuerung bisher nicht vorgesehen ist – aber man weiß ja nie. Außerdem werden dank „Minijobs“ und gestrichener Weihnachts- und Urlaubsgelder weniger Beiträge in die Sozialkassen fließen, und auch die Arbeitslosenrate wird wohl weiter steigen.
Der Deal zwischen Kassen und Politik ist deshalb brüchig, und er wird kaum halten. „Da haben die Krankenkassenverbands-Chefs mit der Politik geredet. Die einzelnen Kassen haben die vorher nicht gefragt“, sagte gestern der Sprecher der Siemens BKK, Manfred Böhm. Seine Kasse habe nicht die Absicht, sich zu verschulden, nur um „unseriösen Absichtserklärungen der Politiker“ zu entsprechen.
Prompt erneuerte der CDU-Gesundheitspolitiker Andreas Storm gestern schon Schmidts und Seehofers Drohung, die Kassen per Gesetz zu niedrigeren Beiträgen zu zwingen. An der Haushaltsrealität der Krankenkassen werden jedoch auch Gesetze nichts ändern.