Hey Berlin! Ach Frankfurt!

Unsentimental gesehen ist Suhrkamp nur ein mittelständisches Unternehmen mit 127 Arbeitsplätzen. Doch das symbolische Kapital ist immens. Diese Woche soll eine Entscheidung fallen, ob das renommierte Haus in Frankfurt bleibt oder nach Berlin umzieht. Vorab: ein Pro und Contra
DIRK KNIPPHALS

JA, Suhrkamp muss nach Berlin kommen, denn der Verlag muss sich eh neu erfinden

Zu den Lieblingsgedichten von Siegfried Unseld zählte „Stufen“ von Hermann Hesse. Es ziert den Grabstein des Suhrkamp-Patriarchen auf dem Frankfurter Hauptfriedhof; er selbst hat sich das so gewünscht. 2002, zur Beerdigung, hat Durs Grünbein daraus zitiert. In dem Gedicht heißt es: „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, / mag lähmender Gewohnheit sich entraffen. / … / Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Besser kann man für Berlin kaum argumentieren.

Reden wir nicht drum herum. Die Gründe für einen Umzug, die derzeit öffentlich ventiliert werden, formulieren keineswegs, worum es wirklich geht. Dass der Verlag dann näher bei seinen Autoren sein wird; dass Berlin dem Verlag ein hübsches Paket aus Förderungen schnüren wird; dass ein Umzug eine wenn nicht ehrenhafte, so doch erprobte Möglichkeit ist, Stellen abzubauen – das alles sind pragmatische Argumente. VerlegerInnen mit Augenmaß und Wirklichkeitssinn müssen sie bedenken. Aber eines sind alle diese Gründe nicht: Suhrkamp-like. Der Verlag, unsentimental gesehen ein mittelständisches Unternehmen mit 127 Arbeitsplätzen, hat sich schon immer größer gemacht, als er real ist. Suhrkamp, das war das Verlagshaus der großen Erzählungen. Weltliteratur! Moderne! Kritische Theorie! Wie man mit diesem Mythos umgeht, das ist die eigentliche Frage hinter dem Umzug.

Die Entscheidung, in Frankfurt zu bleiben, stünde für eine Historisierung des Mythos und für eine Normalisierung des Verlags. Das wären zwar nicht unbedingt schlechte Entwicklungen, aber fraglich erscheint, ob es Suhrkamp so gelingen kann, sich größer zu machen, als es ist – und das wird es wohl müssen, um in einer sich wandelnden Verlagslandschaft langfristig eigenständig bleiben zu können. Seine hegemoniale Stellung innerhalb der deutschsprachigen Literatur hat der Verlag längst verloren; das intellektuelle Standbein Theorie ist längst nicht mehr so mainstreamfähig, wie es die Klassiker Adorno, Habermas, Benjamin, Foucault und Co. lange waren; und wie lange die cash cows Hesse und Brecht tragen, ist unsicher. Suhrkamp: ein Verlag unter vielen mit angeschlossenem Unseld-Museum? So wäre zwar ein weiterer symbolischer Abschied von der alten Bundesrepublik abgewendet, aber fragwürdig ist, ob der Verlag so die intellektuelle Strahlkraft entwickeln könnte, die er zum Überleben wohl braucht.

Auch ein Umzug nach Berlin würde eine Erneuerung dieser Strahlkraft keineswegs garantieren. Aber den Willen dazu – in Hesses Worten: dass der Verlag bereit ist zu Aufbruch und Reise – würde diese Entscheidung dokumentieren. So stünde ein Umzug in die Hauptstadt dafür, den Mythos Suhrkamp neu zu erwecken, die Fackel weiterzutragen, sich zu wandeln, um sich gleich zu bleiben – oder mit welcher rhetorischen Formel man auch immer diesen Schritt dann umspielen wird. Und allen Menschen, die meinen, dass das Haus damit seine Identität verlieren würde, sei gesagt, dass Identität sowieso nichts Festes und Starres ist, sondern etwas, das immer aufs Neue erstritten und erworben werden muss. Vielleicht weiß man das in Berlin zurzeit einfach besser als in Frankfurt. Wohlan denn, Verlag, nimm Abschied und – mach weiterhin gute Bücher!

TANIA MARTINI
NEIN, Suhrkamp muss in Frankfurt bleiben, weil Berlin nicht Paris werden soll

In den Neunzigern besangen die Lassie Singers Hamburg. Auf so schöne Weise, dass man Heimweh nach einer Stadt kriegen konnte, in der man nie gelebt hatte. Ideal standen auf Berlin. Das war noch in den Achtzigern. Auch glamourös, ein bisschen zumindest. Und danach, wieder in den Neunzigern, wenn man so richtig tief im Alleinesein steckte, sehnte man sich nach einem Berlin, in dem sich ganz neue Räume öffneten. Die legendäre Blumfeld-Songzeile „Berlin, da, wo die Leute nur aus Heimweh hinziehen“ spielte auf den einsetzenden Berlin-Hype an. Und Frankfurt? Frankfurt-Lieder hingegen heißen zum Beispiel „E bissi Offebach“.

Und ja, so ist Frankfurt. Ein bisschen so wie Offenbach. Und trotzdem war es cool, in Frankfurt zu sein. Frankfurt war intellektuell, als man in Berlin noch Flugblätter für das Höchstmaß linksintellektueller Theoriebildung hielt. Damals, als das Versprechen von einer so ganz anderen Hauptstadt Berlin sogar die Zentralismusfeindlichen noch nicht zum Wegzug bewegt hatte.

Und jetzt? Armes Frankfurt! Dein geistiges Leben, wird es demnächst endgültig erlöschen? Wenn das bankrotte Berlin sein Buhlen um Suhrkamp, eines deiner letzten kulturellen Aushängeschilder, gewonnen haben wird?

Ach, Frankfurt! Dein Sterben ist ein langsames, in vielerlei Hinsicht jedoch eindeutiges. Nehmen wir die Universität: einst geistiges Zentrum der 68er-Bewegung und der kritischen Gesellschaftswissenschaften, wurde jüngst mit den emeritierten Professoren eine ganze intellektuelle Tradition entsorgt. Und das Institut für Sozialforschung: einst Ort der folgenreichsten soziologischen Theoriebildung dieser Republik – erklingt sein Name, denkt man bloß noch an das Institut des Herrn Reemtsma in Hamburg.

Und das ist längst nicht alles. Deine Intellektuellen wohnen heute in feuchten Kellerwohnungen in Hanau und Offenbach. Nur dort können sie sich noch die Mieten leisten. Die Eintracht ist seit 15 Jahren nicht mehr erfolgreich, deine beste Radiosendung „Der Ball ist rund“ muss ins Internet ausweichen, weil ein populistischer Ministerpräsident in Sheriff-Manier deinen Rundfunk entert, und nicht einmal mehr Keith Richards und Mick Jagger wollen deine Clubs von innen sehen. Und Rippche und Kraut kann man immer noch nicht auf der Straße kaufen, so wie die Currywurst.

Ach Frankfurt! Und jetzt will Frau Berkéwicz dir auch noch deinen wichtigsten Verlag nehmen, dich ganz den Bankern, Roths und Kochs überlassen, dich symbolisch zur intellektuellen Peripherie degradieren. Frankfurt ohne Suhrkamp, das wird so sein wie Eintracht ohne Yeboah. Oder? Frau Berkéwicz, fassen Sie sich ein Herz, überlassen Sie Frankfurt nicht der korrupten Finanzindustrie!

Warum Sie das tun sollten? Ganz ehrlich, nur deshalb: weil wir hier in Berlin verdienstvolle Kleinverlage haben, die eine Subventionsspritze viel eher verdient haben als Sie, weil wir nicht wollen, dass ihre 130 Verlagsmitarbeiter die Mieten in Mitte und Kreuzberg, wo sie sicher werden wohnen wollen, weiter nach oben treiben, weil wir diesen kulturellen Zentralismus nicht brauchen. Oder wollen Sie, dass Berlin so verdammt öde wird wie Paris?