bücher aus den charts: Ullrich vor Armstrong
Es ist dies nicht nur der Sommer der großen Sportereignisse, sondern, wie sollte es anders sein, auch der Sommer der Sportlerbiografien, die sich bestens verkaufen. Nachdem Oliver Kahn mit seinem Sekundärtugend-Buch „Nummer eins“ den Anfang gemacht hatte und Günter Netzer mit einem halbwegs reflektierten und kühl-zurückhaltenden Lebensbuch „Aus der Tiefe des Raums“ nachzog, ist es jetzt pünktlich zur Tour de France Jan Ullrich, der mit einer von dem ARD-Sportkoordinator und Radsportexperten Hagen Boßdorf aufgeschriebenen Biografie die Sachbuchcharts problemlos hochklettert (und auf Platz vier Lance Armstrong weit hinter sich lässt: Der schaffte es mit seinem Buch „Jede Sekunde zählt“ nur auf Platz 10 als höchste Platzierung und liegt diese Woche weit abgeschlagen in den mittleren Zwanzigerrängen).
„Ganz oder gar nicht“ heißt das Buch, dessen Existenz sich sicher der Tatsache verdankt, dass Ullrich vor zwei Jahren in einem tiefen Verletzungs- und Drogenloch verschwunden schien und dann bei der letztjährigen Tour ein grandioses Comeback feierte. Da lässt sich doch was erzählen! Und schon auf den ersten Seiten mit auslaufenden Pünktchen raunen: „Wenn ich damals geahnt hätte, wie oft ich noch fallen und wieder aufstehen würde …“
Der „Prolog“ des Buches fasst dann auch den tiefsten Fall von Ullrich in aller Kürze zusammen, als er auf einer Pressekonferenz die Einnahme von zwei Ecstasy-Tabletten eingestand und nachfolgend für ein halbes Jahr gesperrt wurde. Der Vorspann endet jedoch mit dem Happy End bei der Tour 2003, mit Vaterschaft und überraschendem zweitem Platz hinter Armstrong. In diesem Sinn ist Ullrichs gesamte Geschichte gehalten: Alles wird gut. Insofern ist der Gesamteindruck nach der Lektüre: brav, der Mann, wacker und stromlinienförmig. Ullrichs Biografie hangelt sich an den bekannten Erfolgsstationen und Krisensituationen entlang und liefert etwa den gewissenhaften Sportseitenlesern nicht viele neue Erkenntnisse im Hinblick auf seine Psyche, geschweige denn dass Ullrich/Boßdorf gar tiefere Einblicke in die Gepflogenheiten des Radsports bieten.
Halbwegs interessant sind die frühen Ullrich-Jahre. Ullrich hat eine unspektakuläre DDR-Jugend verlebt, und von den Gebrochenheiten, die die Zonenkinder nach der Wende erfahren mussten, keine Spur – ein echter Radrennfahrer kennt nur ein Ziel: das nächste Rennen, egal ob Friedensfahrt oder Tour de France. Immerhin lässt Ullrich auf die DDR-Sporterziehung nichts kommen und sinniert zusammen mit Landsmann Boßdorf, dass sich „im heutigen deutschen Sportsystem“ ein Jan Ullrich nicht hätte entwickeln können.
Enttäuschend ist dieses Buch gerade dann, wenn es um die viel beschworenen Tiefen Ullrichs geht. Da geizt Ullrich mit Worten im Fall seines Vaters, den er in zwanzig Jahren nur noch einmal kurz gesehen hat, oder im Fall des Dopingverdachts, dem er sich beim Giro d’Italia 2001 ausgesetzt sah. Oder er ist so ausnehmend geschwätzig, gerade im Fall seiner Knieverletzung und der darauf folgenden, folgenreichen Ausschweifungen, dass für einen höheren Reflexionsgrad kein Platz mehr ist.
Immerhin deckt sich das Buch weitgehend mit dem Jan Ullrich, den man so aus dem Fernsehen und von seinen vielsagend nichtssagenden Interviews kennt: ein netter Mensch, der ungern ein Medienprominenter ist, sondern vernarrt in seinen Sport. Ein aufrichtiger, etwas einfältiger Mensch, bei dem nicht viel zu holen ist und der sich anstrengen muss, Profil außerhalb der Rennstrecken zu erlangen. Etwa wenn er von New York schwärmt, „dort haben wir Freunde, gehen in Musicals oder Museen oder ziehen durch die Clubs“. Seine Biografie spricht eine andere Sprache. Zu wünschen wäre ihm die Erkenntnis, dass sich das Leben eben meist zwischen den Polen „Ganz oder gar nicht“ abspielt. ALEXANDER LEOPOLD
Jan Ullrich, Hagen Boßdorf: „Ganz oder gar nicht. Meine Geschichte“. Econ Verlag, Berlin 2004, 300 Seiten, 19,90 Euro
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