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Archiv-Artikel

Fast eine von uns

Eigentlich wäre die Provokateurin Inge Meysel eine perfekte Galionsfigur der Linken gewesen. Doch die hatte „die Mutter der Nation“ meist nur belächelt. Ein Versuch der Annäherung zum Abschied

VON SABINE STAMER

Sie hatte eine Menge Chuzpe und liebte es, zu provozieren. Sie setzte sich ein für die „kleinen Leute“. Sie warb für Toleranz gegen anders Denkende, dafür, jede Religion und Hautfarbe zu akzeptieren. Sie sprach aus, was andere sich nicht laut zu sagen trauten. Hinter ihr lag obendrein eine 12 Jahre lange Verfolgung durch die Nazis, weil ihr Vater Jude war.

Dennoch wurde diese Inge Meysel, die „Mutter der Nation“, von den meisten Linken belächelt. Sie war eher eine Galionsfigur unserer Eltern, der Älteren eben. Dabei suchten wir doch immer so verzweifelt nach bekannten Wortführern, die unseren Forderungen mehr Ausdruck und Gehör verleihen konnten. Und hatte die kleine, mutige Inge nicht die allerbesten Voraussetzungen, unser Aushängeschild zu werden?

Sie teilte so viele Anliegen der linken, der emanzipatorischen Bewegungen, und in manchem war sie diesen sogar voraus. Als Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt, machte Inge Meysel sich einen Namen in einer Zeit, in der die Verbannung der Frauen an den Herd noch als Selbstverständlichkeit galt. Und wer erinnert sich noch, dass sie schon 1966 am Berliner Hebbel-Theater eine Lesbierin spielte? Das tragikomische Stück „Sister George muss sterben“ entpuppte sich als Pleite – zwei Jahre bevor die Studentenbewegung half, die Sitten zu lockern.

Schon Jahre bevor die 68er die verklemmte Nachkriegsgesellschaft nötigten, auch einen Blick auf die Benachteiligten zu werfen, verkörperte Inge Meysel als Hausmeisterin im „Fenster zum Flur“ und als Hausfrau in „Die Unverbesserlichen“ die soziale Gerechtigkeit, spielte David gegen Goliath auf ihre eigene, unsentimentale Art. Inge Meysel wurde zur moralischen Instanz und vertrat dabei durchaus Werte, die die Linke teilte.

Sie habe einige gute Fernsehrollen abgelehnt, erklärte sie, etwa die einer Mutter, die verhindert, dass ihre Tochter einen Schwarzen heiratet. Sie, Inge Meysel, könne nicht in einem Film sagen: „Du kannst doch keinen Neger heiraten. Weißt du nicht, dass Neger riechen?“, denn das Publikum würde sie zweifellos mit dieser Aussage identifizieren. Wenn sie jünger wäre, würde sie sich den Hausbesetzern anschließen, betonte sie. Sie habe durchaus etwas von einer Revolutionärin, konstatiert Schauspielkollege Peter Striebeck, von einer „Küchenrevoluzzerin“.

Inge Meysel nutzte ihre Bekanntheit gerne, um ein politisches Anliegen zu transportieren. Sie machte sich gegen den Abtreibungsparagrafen 218 stark, zog mit Alice Schwarzer gegen die nackten weiblichen Hintern auf dem Cover des Sterns vor Gericht. Da vielleicht haben auch jüngere Frauen sie als eine der ihren akzeptiert. Sie hat sich keineswegs aus purer Prüderie gegen die bloße Haut gewandt. Im Gegenteil, Inge war bis ins höchste Alter so freizügig, dass sie selbst die Nachfahren der Kommune 1 in Verlegenheit bringen konnte. Nichts fand sie dabei, Regisseure nackt im Schneidersitz in ihrer Garderobe zu empfangen.

Sie liebte es, gegen Konventionen zu verstoßen. Liebten wir das nicht auch? Im Restaurant hat sie sich gerne erst mal die hochhackigen Schuhe unterm Tisch ausgezogen, um dann auf Strümpfen an die Nachbartische zu wandern und ungefragt Kostproben von den Tellern überraschter Gäste zu nehmen – mit den Fingern, versteht sich. Sie belauschte Gespräche ihrer Tischnachbarn, um sich dann einzumischen und zu agitieren: „CDU wählen? Sind sie bekloppt?“ Sie holte sich ihre Zeitung im Nachthemd und mit Lockenwicklern im Haar vom Kiosk gegenüber. Warum denn nicht? Ihr war einfach nichts peinlich. Verlegen oder beschämt war sie nie. „Verwerflich finde ich jar nischt. Wenn einer andere nicht bedrängt und belastet, kann er machen, was er will.“

Wie gerne wären wir, die Aufmüpfigen, selbst so dreist gewesen. Doch sahen wir meist nur die preußisch disziplinierte Meysel, die gut betuchte Repräsentantin der Mittelklasse. Ihre biederen Kittel und das permanente Butterstullenschmieren im Fernsehen konnten wir nicht ausstehen, weil wir all das von zu Hause kannten und gerade versuchten, uns davon zu befreien. Auf der anderen Seite entlockte uns die picobello adrett gekleidete wirkliche Meysel schon allein wegen der extravaganten Hüte ein entsetztes Augenrollen. „Volksschauspielerin“ – das klang in unseren Ohren nach Schunkeln und deutscher Tradition, und gerade damit wollten wir doch brechen, uns absetzen von den mittelständischen Werten der Eltern, für die Erfolg und Geld so viel bedeutete.

Inge Meysel ihrerseits fühlte sich trotz der emanzipatorischen Grundhaltung eindeutig als Repräsentantin der wohlerzogenen Mittelklasse, sowohl privat als auch auf der Bühne. Dass sie sich von der Linken nicht angezogen fühlte und die umgekehrt ihr kaum Achtung und Beachtung schenkte, ist wohl auch Ausdruck des tiefen Grabens zwischen den Generationen in Deutschland.

Sabine Stamer ist Autorin der Biografie „Inge Meysel – Ihr Leben“ (Europa Verlag, 2003)