: Nie mehr eine Lawine auslösen
Mit „Blush“ von Wim Vandekeybus im Haus der Festspiele geht das 15. Festival „Tanz im August“ zu Ende. Es ist auch der Abschied von der Initiatorin und Programmplanerin des Festivals wie der Intendantin des Hebbel-Theaters, Nele Hertling
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Stimmen können schmerzen. Stimmen, die von ganz unten aus der Tiefe des Körpers hervorzubrechen scheinen. „L’amour. La mort!“ röhrt es verzweifelt aus dem schmalen Körper eines jungen Mannes, der sich zuvor alle Kleider vom Leib gerissen hat. Jetzt klappt er angstvoll um seinen Nabel, als gelte es, sich in sich selbst zu verschließen. Es ist aber auch furchterregend, wie dünn die Linie der Differenz zwischen l’amour und la mort ist.
Je heftiger die Liebe, desto größer die Angst vor dem Verlust. Das könnte das Thema des Choreografen Wim Vandekeybus in seinem Stück „Blush“ sein, das im Rahmen des Festivals Tanz im August im Haus der Berliner Festspiele gezeigt wird. Oder auch: wie mit der Angst vor Verlust die Lust gesteigert wird, wie mit der Nähe zum Tod kokettierend der Wunsch nach Nähe ins Unendliche wächst.
„Blush“ bewegt sich entlang alter Mythen und rutscht dabei auch in die Nähe von Klischees und Männerphantasien. Da gibt es eine Frauenfigur, ähnlich der Eurydike, gespielt von Ina Geerts. In Monologen, die immer wieder sehr nah mit den Lippen am Mikrofon, rau und intim, gesprochen werden, nimmt sie Abschied von eigenartigen Fantasien: Nie mehr einen Bullen durch den Schwung ihrer Hüften zur Raserei bringen, nie mehr eine Lawine auslösen, nie mehr den Rausch der Geschwindigkeit erfahren. Wenn sie am Ende, nach zwei Stunden, in denen Rituale der Trauer immer wieder in Bilder einer heftigen Jagd nach dem anderen Geschlecht kippten, auf dem Rücken eines Tänzers sanft über die Bühne getragen wird, zeigt die Filmprojektion im Hintergrund ein Gewimmel von Körpern. Erst sind es Menschen, später Frösche. Erst scheinen sie aus Gräbern zu steigen wie in Bildern des jüngsten Gerichts, sich dann aber doch eher aus Ei-ähnlichen Hüllen zu schälen. Ein Bild des Todes, ein Blick in das Brodeln der Ursuppe: So schwankend zwischen den Stimmungen ist das ganze Stück gebaut.
Viele Bewegungen sind wild, von animalischer Energie. Frauen verwandeln sich in Frösche, zucken, zappeln, rocken, springen und reißen die Männer, die Vandekeybus in etwas verträumter Naivität auf die Bühne schickt, einfach um. Ein anderer Strang der Bewegungen ist aus dem Schlaf entwickelt, ein unruhiges Scharren im Ungefähren und Festklammern an allem, was Wärme ausstrahlt. Mit Hilfe der Leinwand, durch die die Tänzer springen können, verwandelt sich die Szene in Bilder unter Wasser, erfüllt von Nixen, Flirts mit Delfinen und pränataler Geborgenheit. Dann wieder werden kleine hungrige Tiere aus den Tänzern, die wie Vögel den Schnabel den Mund aufsperren und nach Futter schreien. Gemeinsam ist all diesen Metamorphosen, die Angst vor dem Tod in Bilder zu verwandeln, die den Verlust und das Verlorene immer wieder auffangen und transformieren.
Man könnte das noch mehr genießen, wenn nicht die Wiederholungen und die auf Dauer doch eindimensionale Aufteilung der Rollen zwischen Frauen und Männer – als ob das Tanztheater nicht seit gut zwei Jahrzehnten viel Intelligenz in deren Dekonstruktion gesteckt hätte – etwas ermüdeten. Dazu hat David Eugene Edwards eine Musik geschrieben voll nostalgischer Anklänge an die besten Zeiten des Rock; wie auf Feten, die vor zwanzig Jahren zu Ende gingen, fühlt man sich da.
Aber diese Stimmung von Abschied und Rückblick ist aus einem anderen Grund angebracht. Wenn am Sonntag das fünfzehnte Festival Tanz im August zu Ende geht, nimmt auch Nele Hertling Abschied: Von ihrem Posten als Programmplanerin von Tanz im August und als Intendantin des Hebbel-Theaters. Mit Wim Vandekeybus, Anne Teresa de Keersmaker, DV8 aus England, LaLaLa Human Steps aus Kanada und Michael Laub aus New York hat sie dabei jene Compagnien wieder eingeladen, die oftmals die Höhepunkte des Festivals lieferten.
Zugegeben: Pina Bausch und William Forsythe sind nie gekommen. Sonst aber ermöglichte dieses schmale Zeitfenster im August, wenn die Theater und Opern Ferien haben, im Hebbeltheater und bald auch auf größeren Bühnen kennen zu lernen, was Tanz alles heißen kann. Legenden der amerikanischen Tanzmoderne, wie Martha Graham, Merce Cunningham und Twyla Tharp kamen ebenso wie die Choreografen, die die Körperpolitiken und Manipulationen in der Gegenwart verfolgen wie Meg Stuart und Saburo Teshigawara. Unterstützt, ergänzt und korrigiert, wo ihr Programm zu große Treue zu einigen Konventionen der Avantgarde zeigte, wurde Nele Hertling dabei von der Tanzwerkstatt.
15 Jahre Tanz im August hieß auch, den Tanz buchstabieren lernen. 39 Artikel, meistens für die taz, sind meine persönliche Bilanz. 39 mal entscheiden, wie viel Technik darf, wie viel Körper muss sein in der Sprache. Eines der ersten Festivals war begleitet von einem Symposion über die Probleme der Tanzkritik, dem Verschwinden des Körpers in Sprache und Metaphern. Ohne dieses Festival und das Programm des Hebbel-Theaters wäre Tanzkritik in Berlin ein magerer Job geblieben. Denn vieles von dem, was in den Neunzigerjahren auch in anderen Häusern an spannenden Choreografien und Performances zu sehen war, kam durch diese Schleuse oder doch durch die Anziehungskraft des Festivals in die Stadt. Wenn das Festival auch im Lauf der Zeit an Bedeutung verloren hat, so nicht zuletzt deshalb, weil viele der damit verbundenen Intentionen Nele Hertlings aufgingen: Nämlich die lokale Szene durch Impulse zu verbessern, mehr Vielfalt entstehen zu lassen und mehr kulturpolitische Aufmerksamkeit für den Tanz zu erzeugen.
Dennoch gibt es auch ein Erschrecken über Sätze, die lange wiederholbar waren. „Der Tanz ist nach wie vor ein Stiefkind der Berliner Kulturpolitik“ begann einer der ersten Berichte zum Festival und daran hat sich lange nichts geändert. Zur Zeit stehen die Zeichen besser, auch für die Zukunft des Festivals, das sicher von Ulrike Becker und André Thériault von der Tanzwerkstatt weitergeführt wird, wenn auch zur Zeit an den Konditionen, Partner und Orten noch heftig geschraubt wird. Veränderungen kommen gewiss. Gerade deshalb aber lohnte es sich in diesem Jahr, sich mal einfach konsumistisch zu verhalten und viele der Compagnien wieder anzuschauen, die Nele Hertling nach Berlin gebracht hat.
„Blush“, Sa 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele