: Skeptiker der Moderne
Wir sollten Hermann Lübbe zum Sieger erklären: Die Forderungen des „Neokonservativen“ nach Entschleunigung und kultureller Einhegung haben sich längst durchgesetzt
Vor zwanzig Jahren musste man nicht erklären, wer Hermann Lübbe ist. Damals stand der Philosoph im Mittelpunkt öffentlicher Kontroversen. Er gehörte, obwohl SPD-Mitglied, zu den Wortführern des damaligen „Neokonservativismus“, proklamierte früh eine „Tendenzwende“ und argumentierte, das Schweigen über die NS-Vergangenheit in den 50er-Jahren sei eine Bedingung für die Stabilisierung der westdeutschen Demokratie gewesen. Sein Hauptgegner in solchen Debatten war Jürgen Habermas, an dessen philosophischen und politischen Positionen Lübbe sich auch in den jüngsten Beiträgen noch gerne reibt und abarbeitet.
Wie für Habermas ist aber auch für Lübbe die politische Intervention sekundär. Im Vordergrund steht eine skeptische Theorie von Moderne und Aufklärung, die nach den unvermeidlichen Kosten des Fortschritts fragt und danach, wie die Menschen die Dynamisierung der modernen Welt aushalten und kompensieren können.
Ein Freund des großen, vielhundertseitigen Werks wie sein Antipode Habermas ist Lübbe jedoch nicht. Ein Hauptwerk von ihm gibt es nicht, und man kann auch kaum sagen, dass er (von Ansätzen in jungen Jahren abgesehen) ein systematisches Gedankengebäude der politischen Philosophie errichtet hätte. Seinem nachhaltigen Einfluss hat das jedoch kaum geschadet – obwohl er gewiss nicht zu den Popularität heischenden Intellektuellen gehört. Manchmal scheint es, als wolle er durch eine altmodische Vokabel, durch umständlichen Satzbau zusätzliche Distanz erzeugen, um vor Vereinnahmung geschützt zu sein. Vielleicht macht ihn sogar sympathisch, dass er in keinem politischen Lager so recht gelandet ist?
Das Fragezeichen hinter Fortschritt, Aufklärung und Modernisierung, das ist auch in dem neuen Buch der rote Faden in der Bearbeitung von drei Schwerpunktthemen, zu denen die insgesamt zwölf Beiträge angeordnet sind. Lübbe will sich dem verordneten Fortschritt, dem Zwang zur Aufklärung verweigern. Emanzipation ist deshalb für ihn – das ist so ein typischer Lübbe’scher Satz – zuallererst die „Verschaffung von Freiheit, über Teilnahme oder Nichtteilnahme an Prozessen der Emanzipation aus tradierten Verhältnissen selbst bestimmen zu wollen“. Wenn ich lieber traditionell bleiben will, darf ich das, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen oder gar Sanktionen zu erleiden. Deshalb bleibt auch Religion – Gegenstand des ersten Teils des Buches – nicht auf der Strecke, sondern wird in der Säkularisierung sogar gestärkt und neu legitimiert als Teil einer pluralisierten Welterfahrung. Denn je moderner wir sind, je größer die Schnittmenge globalisierten Lebens wird, desto wichtiger wird auch herkunftsbegründete Verschiedenheit. In der neuen Debatte über die Wiederkehr von Religion sollten Lübbes Thesen über Säkularisierung und Zivilreligion eine wichtige Rolle spielen.
Auch im politischen Raum gewinnen wir mit wachsendem Fortschritt, mit zunehmender Verwissenschaftlichung von Erkenntnis, mit dem Rat von Experten keine eindeutigen Richtungsvorgaben. Es wird nicht leichter, Konsens zu erzielen, auch wenn wir noch so lange diskutieren: So könnte man Lübbes Gegenthese zu Habermas im dritten Teil des Buchs etwas salopp zusammenfassen. Denn zum einen verlangen die oft widersprüchlichen Expertenurteile jetzt erst recht nach politischer Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip. Zum anderen wird die kulturelle Verunsicherung in der Moderne durch Moralisierung kompensiert, dadurch aber gerade indiskutabel.
Die Schlussfolgerungen daraus sind höchst interessant und folgen keineswegs Klischees konservativer Modernekritik. Lübbe sieht nämlich Formen direkter Demokratie aufgewertet (seine Schweizer Wahlheimat spielt da unverkennbar lebensweltlich mit hinein), und er lehnt auch die Bearbeitung politischer Probleme in Kategorien der Moral nicht ab, sondern begrüßt sie als Ausgleich zu den vermeintlichen Zwangsläufigkeiten einer unabwendbar dynamisierten technischen Zivilisation. Angesichts neuer Expertenkommissionitis einerseits, neuer Befürchtungen um die Substanz der Demokratie andererseits eröffnet diese Sichtweise Chancen für eine basisorientierte, subsidiäre Stärkung demokratischer Verfahren auch in vermeintlich komplizierten, wissenschaftlich umstrittenen Sachfragen.
Vielleicht ist Lübbe, der sich selber nicht ins Rampenlicht stellt, auf unauffällige Weise bereits seit den 80er-Jahren erfolgreich gewesen – diese Vermutung drängt sich bei der Lektüre immer mehr auf. Schallen seine Warnrufe eigentlich noch in die richtige Richtung? Muss man Historisierung noch als Gegenhalt zu einem zu schnellen Fortschritt einfordern (das ist das Grundthema des zweiten Teils), wenn wir uns vor einer Historisierung auch der Alltagskultur kaum retten können? Und wer tritt heute noch als Anwalt von Großprojekten und überhaupt von „großen Einheiten“ auf im Stile der 60er- oder 70er-Jahre?
Wir sollten Hermann Lübbe zum Sieger erklären: Seine Forderungen nach Abbremsung und Entschleunigung, nach einer kulturellen Einhegung und Kompensation des wissenschaftlichen Fortschritts haben sich auf ganzer Linie durchgesetzt. Das verleiht dem auf Religion, Geschichte, direkte Demokratie und Moral bezogenen Titel „Modernisierungsgewinner“ eine zusätzliche, höhere Bedeutung. Die vermeintlich fragilen Gegenkräfte haben sich sogar der Modernisierung bemächtigt, haben sie vielfach unmöglich und uns oft handlungsunfähig gemacht.
Also müsste man heute wieder konservativer sein als der in Wahrheit grüne Hermann Lübbe? Oder fortschrittlicher, moderner als der Wertkonservative Lübbe? Auf jeden Fall muss man ihn kennen, um solche Grundfragen diskutieren zu können. PAUL NOLTE
Hermann Lübbe: „Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral“. Wilhelm Fink Verlag, München 2004, 220 Seiten, 27,90 Euro
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