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Ein Zeitvertreib von Kindern und Göttern: Das Spielmuseum in Soltau zeigt Lourens Bas’ Sammlung von Kreiseln aus sechs Kontinenten und drei Jahrtausenden: meditativ, magisch und mörderisch

Die Magie konnten auch komplizierteste Berechnungen im Geiste Eulers dem ewigen Objekt Kreisel nicht austreiben

AUS BAD SOLTAU BENNO SCHIRRMEISTER

Unsichtbare Kräfte sind im Spiel. Die machen das Phänomen so schwer greifbar. Und so faszinierend. Die Definition ist ja noch leicht: „Ein Kreisel“, schreibt Leonhard Euler 1736, „ist ein starrer Körper, welcher von einem unten zugespitzten Stiele im Mittelpunkte der Trägheit durchbohrt ist“. Aber dann fängt er auch schon an, Variablen zu unterdrücken, die auch die Hauptsache sein könnten: „So beschaffen“ soll der Kreisel sein, dem das Mathe-Genie ein ganzes Kapitel seiner Mechanik widmet, „dass die Momente der Trägheit unter sich gleich sind“. Dass „ich auch vom Widerstände der Luft und allen Hindernissen der Bewegung abstrahire“ findet er selbstverständlich. Und natürlich nimmt er „die Ebene als sehr glatt an“, wegen der Reibung.

Okay, die ist zwar irgendwie wichtig, weil sie schließlich die Rotation stoppt. Aber davor, die Übereinstimmung mit der Erfahrung zum Ziel zu erklären, muss Euler warnen. Die entsprechenden Differentiale wären „so verwickelt“, schreibt er, „dass man sie durch Logarithmen und Kreisbogen nicht darstellen kann“. Finger weg! von der Wirklichkeit also, fort von der Fülle der Phänomene, die ständig wächst, sich beobachten, katalogisieren und klassifizieren, aber nie ganz erfassen lässt. Wer sich für die interessiert, muss nach Bad Soltau fahren. Ins Spiel-Museum.

Das zeigt nämlich gerade Lourens Bas’ Kreiselsammlung, das heißt: Es zeigt ab Sonntag einen kleinen Auszug von 500 Exemplaren, seit Mittwoch baut der Niederländer auf, immer nur kurz unterbrochen von Verzweiflungsattacken – wegen des Zwangs, so viele wegzulassen. „Sie sind alle meine Kinder“, sagt Bas. Und das scheint höchstens zur Hälfte ein Scherz.

Das Museum in Soltau gibt es seit 25 Jahren, es residiert in einem dreistöckigen, dunkelgrünen Haus aus dem 19. Jahrhundert direkt vis à vis zum Rathaus und es ist ein Familienbetrieb: Es kommt durchaus vor, dass Hannelore Ernst, die es, mit dem Grundstock ihrer eigenen Puppensammlung, ins Leben gerufen hat, morgens an der Kasse sitzt, ihr Sohn Matthias und ihre Schwiegertochter Antje haben die ehrenamtliche Leitung der „Stiftung Spiel“ übernommen. Die ist mittlerweile Trägerin der Einrichtung. So ein Museum fällt eher durch zu dezente, als ranschmeißerische Werbung auf.

Was auch für die Kreiselausstellung gilt, obwohl die mit zwei Superlativen angekündigt wird: Als „eine der umfangreichsten“ und als „die bedeutendste weltweit“ bezeichnet der Pressetext die Sammlung. Aber das ist noch viel zu kurz gegriffen.

Vergessen Sie alles, was Sie über Kreisel zu wissen glaubten! müsste da stehen. Magie und Technik!, Zauber, Gewalt und Abenteuer! In mehr als 40 Jahren nämlich hat Bas in Ozeanien und in Griechenland, in Frankreich, Deutschland und Japan Kreisel, Gyroskope und Jojos aus 3.000 Jahren aufgespürt, erforscht und erläutert. Diese Sammlung hat mindestens ein Leben verändert. Sie ist eine Wucht.

Das mit dem Leben ist wirklich keine Übertreibung. Denn Lourens Bas, Jahrgang 1944, wollte ursprünglich nicht Spielzeughändler und -forscher werden. Sondern Künstler. In Paris hat er studiert. Als er dann Mitte der 1960er in einer Amsterdamer Galerie eine erste Ausstellung hatte, war das Bedürfnis, sich abzugrenzen groß. „Ich war jung und hatte das Bedürfnis anders zu sein“, erzählt er, „und ich habe an jedes Kunstwerk ein Spielzeug gelegt“. Die sich besser verkauften, als die eigentlichen Ausstellungsstücke. Sodass er am Ende wirklich ganz anders gewesen: „I suddenly was a former artist and now toy-dealer“. Der, zum Gedenken an die Ausstellung seines Lebens eins der Gimmicks aufbewahrte – „a spinning-top.“ Ein Erinnerungsstück wird zum Ausgangspunkt von Entdeckungen.

Top ist das englische, toupie das französische Wort für Kreisel, der früher auf Deutsch auch „Topf“ hieß, wie das Grimmsche Wörterbuch erläutert: „Bei uns im Schwabenland“, zitiert es Eduard Mörike als Beleg, „heiszt so ein topf aus holz gemeinhin eine habergeis“, macht schon mal Name Nummer drei. Und das sind längst noch gar nicht viele: „Es gab“, sagt der Hamburger Informatiker Ulrich Mott, der neben der Arbeit die Website „Institut für Kreiselforschung“ betreibt, „um die 1.000 regional verschiedene Bezeichnungen“, er kennt sie aus der 1943 verfassten Dissertation der Germanistin Ottilie Henke, und er hat sie einmal zu einem Rap komponiert, erzählt Mott. Echte Fundstücke sind darunter: Dratschibaba, Hürlibua und Zwurlatz, lauter vergessene Namen – der Kreisel hat an Bedeutung verloren, so viel ist klar. Was auch für Bas Sammlung eine wichtige Einsicht war: „Für uns“, Straßenjungs in Amsterdam, Nachkriegszeit, „war das der einzige Zeitvertreib, den wir hatten“. Schön friedlich?

Na, bedingt: Nicht nur, dass Bas von manchen seiner Steinkreisel aus archaischen Kulturen sicher ist, dass sie als Waffe dienten, zum Jagen und zum Töten. Auch im Nachkriegs-Holland war das so meditativ anmutende Kreiseln, so schildert er’s, ein echtes Macho-Game. Haarscharf am Rand der Grachten, immer mit dem Risiko, dass der eigene Kreisel von den Mitspielern durch einen gezielten Hieb ins Trudeln und zum Absturz gebracht wurde, und immer auf der Lauer, dem gegnerischen Spielgerät den Garaus zu bereiten. Wer es aber schaffte, seinen Kreisel rotierend aufzuheben und auf dem Handteller weiter drehen zu lassen, „der war der King“.

Personen, die einen Peitschenkreisel triumphal auf der Handfläche balancieren, zeigt die Soltauer Ausstellung mehrfach. Das Motiv findet sich auf Delfter Kacheln ebenso wie in japanischen Püppchen und auf einer etwa 500 vor unserer Zeit getöpferten griechischen Amphore. Und es ist immer dasselbe – ob es nun als Kinder- oder auch als Götterspiel auftritt: Die Drehbewegung, die, je größer die Geschwindigkeit, das unmögliche Gleichgewicht am meisten stabilisiert, am meisten dem Stillstand gleicht, hat nicht nur Nähe zum magischen Ritual. Sie stammt von ihm ab – sofern sie es nicht selbst schon ist.

So zeigt Bas’ Kreisel aus schamanischen Kulturen Ozeaniens: Solche, die durch eine Öffnung im gewölbten Körper zu singen beginnen, schicksalhafte Botschaften, natürlich, die der Medizinmann zu deuten versteht. Oder jene kiloschwere Scheibe mit einsetzbarer Mittelachse. „Die“, so der Sammler, „darf nur der Magier hineinstecken.“ Der Werfer werde, so hat er’s erlebt, an einen Baum gebunden, um nicht vom Gewicht des Diskus mitgerissen zu werden. Je länger die Drehbewegung anhält, desto größer die Zauberkraft. „Man hatte mir gesagt, dass ein ganzer Tag möglich wäre“, so Bas. „Ich fand das selbst unglaublich.“ Bis ihm das heilige Gerät vorgeführt wurde: 150 Minuten habe es gedauert, bis die Scheibe zu wackeln begann. „Ich war platt.“

Die Magie konnten auch komplizierteste Berechnungen im Geiste Eulers dem ewigen Objekt Kreisel nicht austreiben. Im Gegenteil, selbst wenn er restlos erklärt wäre, wäre das doch nur der Griff nach einem dummen Holzstück, wie ihn Franz Kafka in der Erzählung „Der Kreisel“ einem namenlosen Philosophen zuschreibt. Und „er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche“ heißt es an deren Ende: Dem, was er untersuchen wollte gleich geworden, von seiner Bewegung erfasst: Ziellos, sinnlos – faszinierend.

täglich 10–18 Uhr, bis 14. Juni