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Archiv-Artikel

„Religion ist eine scharfe Sache“

Thomas Gandow

„Religion ist eine heiße Angelegenheit. Wir führen Dialog mit den Sekten, aber einen mit Konfrontation, bei der wir eine feste Position haben, kein Cocktailparty-Gespräch. Ohne eigene Position wird man zum Sekten-Versteher“

Noch einmal sechs Jahre: Thomas Gandow ist als Beauftragter für Sekten und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg bestätigt worden. Als siebtes von acht Kindern 1946 in Berlin geboren, machte er eine perfekte evangelische Sozialisation durch, ehe der Pfarrer über die Beschäftigung mit fernöstlichen Religionen zum Sektenexperten und 1992 zum Sektenbeauftragten wurde. Seitdem warnt er beständig vor Gruppen und Kulten, die Menschen ihre Freiheit rauben – nicht ohne von dem Feuer des radikalen Glaubens fasziniert zu sein. Ein Gespräch mit dem Theologen über „UFO-Sekten“, die Methoden von „Scientology“ und die Hintermänner der „Weight Watchers“

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Herr Gandow, das Christentum ist doch eine jüdische Sekte – oder?

Thomas Gandow: Ja. Aus der Urgemeinde, die eine jüdische Schulrichtung war, hat sich die Kirche entwickelt, und sie ist inzwischen eine Religion.

Wenn das Christentum eine Sekte war: Warum soll es dann besser sein als die Sekten und Kulte, die Sie beobachten und verurteilen?

Ich verurteile keine Sekten. Ich versuche, sie zu beurteilen. Im Grunde ist meine Aufgabe als kirchlicher Sektenbeauftragter die als Linienrichter: Ich sage nur, was noch drin ist und was schon draußen ist.

Was meinen Sie damit?

Das, was nach allgemeiner Übereinstimmung noch mit dem klassischen Christentum vereinbar ist. Früher sagte man: in Übereinstimmung mit dem, was überall von allen gelehrt und geglaubt wird. Sekten sind für mich nur die Verwandtschaft, das heißt die Abspaltungen vom Christentum. Die Medien bezeichnen alles als Sekte: Wenn eine durchgeknallte Psychotherapeutin mit ihrer Therapiegruppe auf einen Vulkan klettert und sich dort von einem UFO abholen lässt, schreibt die Bild: „UFO-Sekte“. Das ist aber nicht exakt.

Sie beobachten aber als Sektenbeauftragter „Scientology“ intensiv – die haben mit Christentum nichts zu tun.

Das ist keine Sekte.

Warum beschäftigt Sie diese Organisation, wenn es keine Sekte ist?

Ich kann nichts dafür. Die Leute fragen mich, ob das eine Sekte ist. Wenn ich nachfrage, wollen die Leute wissen, ob das was Gefährliches ist. Ich werde auch über die „Weight Watchers“ und das „Wall Street Institute“ gefragt – obwohl die nur Sprachkurse veranstalten.

Aber die Beschäftigung mit „Scientology“ geht doch auch von Ihnen aus.

Die Hauptnachfrage gilt bei mir weiter den christlichen Gruppen. Aber „Scientology“ hat einen großen Stellenwert bei mir angenommen in den letzten Jahren. Weil ich einen „Scientology“-Aussteiger bei mir aufgenommen habe, der von „Scientology“ verfolgt wurde. Ich glaube, die Kirche muss sich damit beschäftigen, weil „Scientology“ eine totalitäre Organisation ist. Einer muss es machen. Das bin ich in diesem Fall. Totalitarismus ist eine Herausforderung für alle Religionen. Denn Totalitarismus gefährdet die Religionsfreiheit.

In letzter Zeit scheint es ruhiger geworden zu sein um „Scientology“.

Die US-amerikanische Botschaft verbreitet, seit Mitte der 90er-Jahre habe sich „Scientology“ radikal gedreht. Sie sei jetzt eine menschenfreundliche Organisation. Ich habe in den vergangenen Monaten das Gegenteil erlebt: Sie verfolgen jeden Aussteiger und jeden, der Aussteiger unterstützt. Mit kriminellen Mitteln! Auf der anderen Seite versucht „Scientology“ mit dem Image aufzutreten: „Wir kämpfen gegen Drogen und massieren die Sandsackschlepper bei der Flutkatastrophe vor zwei Jahren.“

Klingt doch nicht schlecht.

Es gibt einen Grundsatz bei „Scientology“: „Wir dulden es nicht, Menschen von ‚Scientology‘ abzuhalten, uns zu kritisieren oder uns gleichgültig gegenüberzustehen.“ Das ist ein Zitat. Damit definiert sich „Scientology“ selber als eine totalitäre Organisation im klassischen Sinne. Es darf keinen Bereich geben, in dem die nicht bestimmen. Und es gibt noch schlimmere Zitate.

Sie haben gesagt, Sie wurden verfolgt von Scientologen, auf der Autobahn ausgebremst, von deren „Geheimdienst“ OSA überwacht etc. – hört sich nach Verfolgungswahn an.

Tja, deswegen hat auch kaum jemand davon berichtet. Aber der Rechtsanwalt der Täter hat vor Gericht bestätigt, dass die Verfolgung im Auftrag der Organisation stattfand. Es hört sich unwahrscheinlich an. Ich habe zu der Zeit auch gedacht, so etwas gibt es, wenn überhaupt, nur in Amerika. Aber ich habe es selbst erlebt, als ich mit dem „Scientology“-Aussteiger Gerald Armstrong auf dem Weg zu einer Veranstaltung war. Wenn nicht ganz schnell die Autobahnpolizei da gewesen wäre, weiß ich nicht, was passiert wäre.

Ihr Konfirmationsspruch ist Lukas 9,62. Da bescheinigt Jesus einem Mann, der ihm nachfolgen, aber sich vorher noch verabschieden will von seinen Eltern, er tauge nicht für das Reich Gottes – ist solcher Rigorismus nicht ein Zeichen für eine Sekte?

„Keiner, der die Hand an den Pflug legt“, sagt Jesus da, „und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“ Ich glaube schon: Wenn man sich entschieden hat, muss man auch versuchen, die Furche zu ziehen.

Aber ist das nicht auch sehr radikal – sich noch nicht mal von den Eltern verabschieden zu dürfen?

Mein Lehrer war Helmut Gollwitzer. Von dem habe ich gelernt, dass religiöser Radikalismus eine gute Sache und nötig ist.

Jesus fordert doch genau das, was an Sekten immer kritisiert wird, dass sie Menschen rausdrängen aus ihren Bezügen und nur der eine Weg bleibt.

Ja, aber das ist nicht mein Kritikpunkt an den Sekten. Jesus sagt auch: Wer einen Turm baut, sollte vorher die Kosten ausrechnen. Man darf nicht Leute in ein Wagnis locken, ohne ihnen vorher zu sagen, worum es geht. Das ist an vielen der Sekten, Kulte und Gruppen zu kritisieren, dass sie den Leuten eben nicht sagen, worum es eigentlich geht, nämlich um die totale Hingabe an fremde Ziele.

Was halten Sie denn von Organisationen wie Opus Dei? Die wollten ja in der Nähe von Potsdam ein Jungen-Gymnasium eröffnen.

Das Opus Dei ist erst einmal keine Sekte, weil es eine Organisation innerhalb der römisch-katholischen Kirche ist.

Die haben auch einen radikalen Weg und separieren sich, agieren als eine Art Geheimorganisation, es ist schwierig rauszukommen.

Das ist eine Gruppe, bei der ich immer sagen werde, dass ich dazu nichts sagen werde.

Sie wollen sich die Finger nicht verbrennen.

Ich weiß auch zu wenig darüber. Für mich ist spannender, was es am Rande der evangelischen Kirche gibt. Das würde ich lieber anderen überlassen, über römische Organisationen wie das Opus Dei und das Neokatechumenat zu reden. Es gibt doch diesen Spruch: Mögen andere von ihrer Schande reden, ich rede von meiner.

Sind denn Sekten überhaupt noch ein großes Problem unter Jugendlichen – man hat den Eindruck, dass das etwa im Vergleich zu den 70er-, 80er-Jahren eher marginal ist.

Das Problem hat sich verlagert: Es gibt heute nicht mehr die großen Gruppen wie die Bhagwan/Osho-Bewegung, sondern viele kleine. Die, die damals in den Sekten junge Leute waren, sind heute Eltern. Unverändert ist das Problem derer, die in den Sekten aufwachsen. Bei christlichen Sekten wie der Neuapostolischen Kirche und den Zeugen Jehovas gibt es viele Probleme und einen großen Beratungsbedarf. Auch die pfingstlerischen und charismatischen Gruppen werfen Probleme auf. Es gibt da zum Teil gesundheitliche Probleme, etwa wenn man Mitgliedern überzogene Heilungsversprechungen macht. Die ganze Welt wird mit Dämonen und dämonischer Belastung erklärt.

„Ich habe einen ‚Scientology‘-Aussteiger bei mir aufgenommen, der von ‚Scientology‘ verfolgt wurde. Ich glaube, die Kirche muss sich damit beschäftigen, weil ‚Scientology‘ eine totalitäre Organisation ist“

1978 haben sich zwei Anhänger der Ananda-Marga-Bewegung vor der Gedächtniskirche verbrannt – war das ein Schock für Sie oder ein Anlass, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Ich hatte mich im Studium mit fernöstlichen Sekten und Religionen beschäftigt. Nach den Selbstverbrennungen wurde ich deshalb in eine danach gegründete „Arbeitsgruppe Jugendreligionen“ berufen. Als sich kurz danach ein Massenselbstmord in Jonestown des People’s Temple in Guyana ereignete, wo fast 1.000 Menschen sich selbst und andere, auch Kinder, töteten, konnte die Kirche bei Anfragen auf mich verweisen: Wir haben da einen Experten – seit zwei Wochen. Aus dieser Inanspruchnahme bin ich dann nicht mehr rausgekommen.

Fühlen Sie sich selbst beim Thema Sekten als ein Getriebener?

Ich habe ja früher viel Mao gelesen. Der hat einmal gesagt: Man muss auf einem Berg sitzen und unten die Tiger kämpfen sehen. Zwei Tiger sind schon ganz spannend, aber wenn 500 Tiger rumtoben, dann ist der einzelne nicht mehr so spannend. Es gibt etwa 500 Sekten und Kulte in Berlin, etwa 20 bis 30 von ihnen werfen Probleme auf. Mitglieder haben die nur wenige. Die Zeugen Jehovas als größte Gruppe haben im Raum Berlin etwa 7.000 Mitglieder.

Ist da nicht doch Faszination dabei, weil Sie das Faszinosum des Glaubens angesichts eines 1a-christlichen Lebenslaufs nachempfinden können? Sich einer Sache ganz verschreiben. Das müssen Sie kennen.

Vielleicht ist das Problem vieler kirchlicher Leute, dass sie denken, Religion ist klassische Musik, auf Zimmerlautstärke herabgesetzt und temperiert. Ich weiß: Religion ist eine scharfe Sache. Das brennt, das kann einen anstecken. Es ist eine heiße Angelegenheit. Wir führen Dialog mit den Sekten, aber einen mit Konfrontation, bei der wir eine feste Position haben, kein Cocktailparty-Gespräch. Ohne eigene Position wird man zum Sekten-Versteher.

Brennt der Glaube bei Ihnen persönlich noch?

Ich bin ein frommer Kirchenchrist. Bald werde ich im Brandenburger Dom predigen dürfen. Da werde ich versuchen, etwas von meiner Begeisterung zu versprühen. Ich verstehe mich als christlicher Apologet, der das Christentum gegenüber Sekten und anderen Gruppen verteidigt. Mein Motto ist aus dem Judas-Brief: „Habt Mitleid mit den Zweifelnden, reißt sie aus dem Feuer und errettet sie.“ Es ist schön, dass Religion eine heiße Sache ist, aber manche verbrennen sich daran. Denen muss man helfen.

Wo sehen Sie gegenwärtig die meisten Gefahren für jungen Menschen: im Satanismus?

Ach, was ist Satanismus? Das ist ein weites Feld. Es gibt jährlich dieses Dark-Wave-Festival in Leipzig, wo unter anderem Neonazi-Gruppen jungen Menschen ganz gezielt rekrutieren. Da viele Jugendliche gar keine Vorstellung von Religion haben, weder eine positive noch eine kritische, sind sie sehr leicht zu begeistern, zu verführen und zu organisieren. Religion kann als Lockmittel eingesetzt werden für alle möglichen Ziele. Der Islamismus ist ein größeres Problem auch für Jugendliche deutscher Herkunft. Ich werde auch nach denen gefragt.

Zum Schluss: Warum werden Sie auch über die „Weight Watchers“ gefragt – wer steckt denn hinter denen?

„Heinz-Ketchup“ – der Welt größter Dickmacher.