piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein verschüttetes Verbrechen

aus Chiaravalle und Treuenbrietzen HEIKE KLEFFNER

Vor dem Kiefernwald steht eine Gruppe junger Männer, manche in Zivil, manche in Uniformteilen und mit Mützen der Roten Armee. Alle haben die Ärmel bis über die Ellenbogen hoch gerollt, alle haben die Köpfe gesenkt. Was zu ihren Füßen liegt, ist nicht gleich auszumachen, ein dunkler Fleck. Eine improvisierte Tragbare muss es sein, darauf Teile eines menschlichen Leichnams.

Edo Magnalardo blättert die rissigen Seiten des Fotoalbums langsam um. Seine Hände sind vom Alter ein wenig steif, aber er blättert so behutsam, als könnte den Toten auf den Bildern etwas geschehen. Die Gesichter sind bis zur Unkenntlichkeit verwest, die fleischlosen Knochen halten nur Arbeitskittel und zerrissene Hosen zusammen. Er hat sie mit ausgegraben aus dem märkischen Sand, es waren 127 Männer, der jüngste war 19 Jahre alt. Er hat sie identifiziert gemeinsam mit sowjetischen Soldaten, mit einer Gartenschere hat er die Taschen der Leichen aufgeschnitten, um nach Papieren oder Briefen zu suchen. Edo Magnalardo ist einer der Zivilisten vor dem Kiefernwald, deren fassungslose Blicke die Kamera eingefangen hat. Er hätte leicht einer der Toten sein können. Er lag unter ihnen, ihr Blut lief über seine Kleidung und mit jeder unendlichen langen Minute, in denen Schüsse fielen und er trotzdem noch lebte, glaubte er, dass die nächste Kugel an diesem 23. April 1945 ihn treffen würde. Die noch immer kräftigen Hände des gelernten Mechanikers streichen abwesend über die Bronzemedaille mit einer kleinen grün-weißen Schleife, die am Anzugrevers festgesteckt ist. Den Orden hat ihm Italiens Staatspräsident im Sommer vergangenen Jahres verliehen. Er sagt: „Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Ich kann dieses Wunder nicht erklären.“

Das Massaker an 127 italienischen Gefangenen in einer Kiesgrube zwischen dem Dorf Nichel und der Kleinstadt Treuenbrietzen 40 Kilometer südlich von Berlin zwei Wochen vor Kriegsende gehört zu den noch immer unaufgeklärten und vergessenen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. Edo Magnalardo, 82 Jahre alt, sitzt in seiner Wohnung in Chiaravalle an der Adria. Seine Frau Fiorella breitet Tassen mit Tee und Zitrone und Teller mit süßem Gebäck neben dem Fotoalbum auf dem Couchtisch aus. „Edo hatte vier Bypass-Operationen“, sagt Fiorella. Die Ermahnung, ihr Ehemann solle sich nicht aufregen, spart sich die 75-Jährige. Gelassen nimmt sie auf einen Stuhl Platz, ihr Mann sitzt scheinbar abwesend in dem Sessel vor der Wand, an der gerahmte Familienfotos neben Kruzifix und Madonnenbild hängen. Als er weiterspricht, wird klar, dass er seine Erinnerungen gesammelt, sich noch einmal konzentriert hat. Am Anfang stand seine Festnahme als Soldat der italienischen Armee am Flughafen von Bologna in der Nacht vom 8. zum 9. September 1943. Wenige Stunden zuvor hatte der italienische Generalfeldmarschall und Ministerpräsident Piedro Badoglio den Waffenstillstand mit den Alliierten bekannt gegeben und die „Achse“ mit Hitler-Deutschland aufgekündigt. Edo Magnalardos Einheit wartete am Flughafen auf Verstärkung. „Statt dessen kamen die Deutschen. Das war schrecklich.“

Von diesem Tag an ist er einer von rund 620.000 italienischen Militärinternierten, den Status der Kriegsgefangenen billigen die Deutschen ihnen nicht zu. In Viehwaggons wird er nach Deutschland gebracht. Zuerst nach Bergen-Belsen, dann ins Zwangsarbeiterlager neben der Treuenbrietzener Metallwarenfabrik GmbH. Unter den 3.000 Zwangsarbeitern, die hier für die Wehrmacht Munition herstellen müssen, sind auch 150 italienische Gefangene. „Brot, Milch, Kartoffeln, kalt“, sind die deutschen Worte, die Edo Magnalardo fast 60 Jahre später als Erstes einfallen, wenn er an die zwölfstündigen Schichten, die Sechstagewoche, die wässrige, graue Suppe, die zugigen Holzbaracken in jenen eineinhalb Jahren Zwangsarbeit denkt. Er weiß auch noch, wie deutsche Arbeiter immer wieder „Verräter“ zischten, wenn die Italiener kamen.

Als am 21. April 1945 plötzlich zwei Panzer der Roten Armee ins Zwangsarbeiterlager rollen, scheint die Freiheit zum Greifen nah. Schon vorher haben die Internierten aufmerksam die langen Kolonnen Fliehender beobachtet, die auf der nahe gelegenen Landstraße ihre Habseligkeiten in Handkarren davonschleppen. Keiner der Gefangenen, die an jenem Abend ihre Befreiung feiern und überlegen, wie sie am schnellsten nach Italien zurückkommen würden, ist auf die Rückkehr der Wehrmacht zwei Tage später vorbereitet.

Zuerst werden die 150 Italiener von den anderen Zwangsarbeitern getrennt, dann befiehlt ein Offizier den Abmarsch. Mitnehmen dürfen die Gefangenen nichts. Am Anfang werden die Kolonne und ihre Bewacher noch von knapp zwei Dutzend deutschen Zivilisten begleitet, die im Lager gearbeitet hatten.

„An einer Straßenkreuzung befahl der Offizier ihnen, sie sollten weggehen“, erzählt Edo Magnalardo in Chiaravalle. Er sagt, diese Deutschen hätten 19 Italienern das Leben gerettet. „Sie erklärten dem Kommandanten, dass sie Hilfe beim Tragen ihres Gepäcks bräuchten. Dann wählten sie diejenigen unter uns aus, mit denen sie den engsten Kontakt gehabt hatten, und gingen mit ihnen weg.“ 131 Italiener wurden von den Soldaten auf einem Feldweg weitergetrieben. Auf die Frage, ob er sich sicher sei, dass die Bewaffneten Wehrmachtssoldaten und nicht SS-Angehörige gewesen seien, hebt Edo Magnalardo für einen Moment die Stimme. „Wir kannten die Unterschiede.“ Eine graue Uniform, ein „Symbol für den Russland-Feldzug auf der Brust“, kniehohe schwarze Stiefel, und „eine autoritäre Ausstrahlung“ sind seine Erinnerungen an den Kommandanten. Das Gesicht? Kopfschütteln. „Das ist fast 60 Jahre her, und ich habe den Offizier nur an diesem Tag gesehen.“

Beinahe 60 Jahre später ist die Frage, wer die Italiener zu der Grube brachte und den Befehl zum Morden gab, noch immer ungeklärt. Auf dem Schreibtisch von Staatsanwalt Dr. Joachim Riedel, dem stellvertretenden Leiter der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ in Ludwigsburg bei Stuttgart, liegt neben vielen anderen Akten ein blassroter Pappdeckel. 200 Seiten umfasst die Akte Treuenbrietzen. „Die ist dünn im Vergleich zu anderen“, sagt der Staatsanwalt.

Im vergangenen Jahr ist Riedel, Jahrgang 1941, auf den Spuren eines Massakers in die Ukraine gefahren und hat aus dortigen Archiven ein Kilogramm Kopien mitgebracht. Über 100.000 Fälle wurden in Ludwigsburg in dem unscheinbaren Haus, einem ehemaligen Frauengefängnis, seit der Gründung der Behörde 1958 bearbeitet. Etwas mehr als 7.000 Strafverfahren gegen NS-Täter sind daraus entstanden. In den Siebzigerjahren arbeiteten hier 49 Richter und Staatsanwälte, heute sind es noch vier Staatsanwälte. „Auf dem Papier haben wir sechs Planstellen“, sagt Riedel. „Aber ein Kollege ist krank, und ein anderer wurde gerade an das Bundesverfassungsgericht berufen.“

Mord verjährt nicht. Aber seit knapp drei Jahrzehnten ist praktisch nichts mehr passiert in der Sache Treuenbrietzen – wegen des Personalmangels, aber auch wegen einer Panne. „Durch einen Fehler eines damaligen Mitarbeiters wurden die Ermittlungen 1974 eingestellt“, erklärt Riedel. Es ist ihm anzuhören, dass ihm das Eingeständnis schwer fällt.

Zehn Jahre vor der Einstellung hatte der Generalstaatsanwalt der DDR die Staatsanwaltschaft in Köln um Amtshilfe in Sachen Treuenbrietzen gebeten und bundesdeutsche Ermittlungen angeregt. Gesucht wurde damals der SS-Lagerkommandant eines Außenlagers des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Dessen Insassen mussten auch in den Treuenbrietzener Munitionswerken arbeiten. Auch wegen der unbekannten Täter des Massakers an den italienischen Militärinternierten baten die DDR-Ermittler um Hilfe. Offenbar war auch die DDR-Justiz nicht weit gekommen bei der Suche. Weil die Kölner Justiz die Ermittlungen gegen den SS-Lagerkommandanten 1974 einstellte, seien in Ludwigsburg auch die Ermittlungen wegen des Massakers nicht weitergeführt worden, sagt Riedel heute. Seit einigen Monaten immerhin liegt die Akte wieder auf seinem Tisch.

Doch bevor er neue Ermittlungsschritte einleiten wird, müssen erst einmal innerdeutsche Zuständigkeiten geklärt werden. Ludwigsburg mit seinen sechs Planstellen will den Fall an die Staatsanwaltschaft Potsdam abgeben. Der Tatort liege in Brandenburg, und damit müsse die dortige Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führen, sagt Riedel. In Potsdam ist man anderer Ansicht. Die Staatsanwaltschaft erklärt, sie habe sich die Akte in den letzten Monaten angesehen und dann wieder nach Ludwigsburg zurückgeschickt. Mehr will die Pressestelle nicht sagen. Aus Potsdamer Justizkreisen heißt es, Ludwigsburg müsse erst einmal bessere Vorermittlungen führen.

Angelo Uleano und seine Mutter Ines Nucitelli wollen nicht länger warten. 58 Jahre lang hat Ines Nucitelli nach ihrem Bruder Angelo gesucht. Im vergangenen April stand sie an den zwei Gedenksteinen, die heute bei Treuenbrietzen an das Massaker erinnern. Vor dem Rathaus in Chiaravalle holt Angelo Uleano ein Stück Papier aus einer Mappe. Es hat Risse und Eselsohren und ist brüchig. Es ist das letzte Lebenszeichen des Onkels. Im September 1943 hatten Passanten den Papierfetzen mit den krakeligen Zeilen auf der einen Seite und der Adresse der Familie auf der anderen Seite auf der Straße gefunden und weitergeschickt. „Grüße und Küsse, ihr Lieben“, hatte Angelo Nucitelli noch geschrieben, bevor sein Gefangenentransport Italien verließ. Die Familie solle sich keine Sorgen machen. Sie würden jetzt weggebracht. Wohin es gehen sollte, wusste der 20-Jährige nicht, und so beendet er den Brief mit zwei Worten: „Destinazione ignota“ – unbekanntes Ziel.

Das nächste Mal hört die Familie Nuticelli von Angelo, als im August 1945 eine Sterbeurkunde des italienischen Verteidigungsministeriums in der Post liegt. Fünf nüchterne Zeilen für ein Leben. Angelo Nuticelli sei tot, wird darin bestätigt. Ort des Geschehens: Nichel in Brandenburg. Tag: 23. April 1945. Todesursache: von Deutschen erschossen. Die Familie gibt sich mit den spärlichen Informationen nicht zufrieden und schreibt an den Suchdienst des Roten Kreuzes in Genf. Ohne Erfolg. Jahrzehnte später fragt sein Neffe, der inzwischen die Mutter bei der Suche unterstützt, nochmals. Kommentarlos erhält die Familie drei Blätter aus Genf. Das erste trägt den Stempel „Secret – Geheim“. Auf dem zweiten steht, dass Angelo Nuticelli 1955 aus dem Grab Nummer 33/Reihe 1 in Nichel auf den Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf überführt wurde. Grab Nummer 166.

Fragt man in Treuenbrietzen heute nach dem Massaker, wird man zu Wolfgang Ucksche geschickt. Der Mann mit dem fusseligen grauen Vollbart im Stil alter DDR-Bügerrechtler war vor der Wende Tankwart und ist seit 1990 als Heimatforscher so etwas wie der Chefhistoriker der Gemeinde. Gerade hat Ucksche im Heimatmuseum, einem Fachwerkturm am Stadteingang, eine Ausstellung gezeigt. Auf zwölf Tafeln haben da der italienische Volkshochschuldozent Gianfranco Ceccanei und ein deutscher Lehrer vom Berliner Geschichtsverein Altritalia – „das andere Italien“ – die Zeugnisse des Massakers und das Leben der italienischen Gefangenen zusammengestellt. Der italienische Volkshochschuldozent hatte zu der Tat in Brandenburg recherchiert, auf seine Initiative hin brachte das italienische Magazin L’Espresso im vergangenen Jahr Edo Magnalardos Geschichte. Auf zwölf Tafeln stellten die beiden Ausstellungsmacher im Heimatsmuseum von Treuenbrietzen Fotos und Dokumente aus. Eine 13. Tafel hatte Wolfgang Ucksche selbst gemacht. „23. April 1945, dieser Tag war ein Tag der Massaker in Treuenbrietzen“, steht auf Tafel 13. An diesem Tag seien neben 127 durch „Wehrmacht und SS ermordeten“ italienischen Gefangenen „270 Zivilisten von der Roten Armee erschossen“ worden in der 10.000-Einwohner-Stadt. „Bis zum 12. Mai sollten 820 weitere Hinrichtungen folgen.“

Hartnäckig hält sich in der Gegend die Version, die Italiener seien von „Männern der schwarzen SS“ ermordet worden, wie der Heimatmuseumsdirektor sagt. Er reicht einem eine selbst gemachte Broschüre mit dem Titel „Schwere Kämpfe in und um Treuenbrietzen“. Auf 140 Seiten erzählen hier Treuenbrietzener von den letzten Kriegstagen in ihrer Stadt. Zwei Seiten sind dem Massaker gewidmet. „Günter Gottong war als Volkssturmmann dabei, als die Italiener zusammengetrieben wurden […]. Ein Leutnant, drei Soldaten und Günter trieben die Italiener durch das Verlorene Wasser und die Bahnunterführung Richtung Nichel. In einer Senke befahl der Leutnant, die Italiener zu erschießen. Da sich ein Soldat weigerte, zog der Leutnant seine Pistole und erschoß den Soldaten. Die Italiener lagen in einer Länge von ca. 10 m zu viert oder fünft übereinander. Nun sollte sich auch Günter an der Ermordung beteiligen. Der Leutnant drückte ihm eine Pistole in die Hand, mit der nicht richtig getroffene Italiener, die nur vor Schmerzen schrieen, einen Fangschuss geben sollte. Günter weinte und sagte, dass er das nicht könnte. Darauf trat ihn der Leutnant in den Hintern und zwang ihn, bei der Exekution zuzusehen. In Nichel fiel die Ermordung der Zwangsarbeiter nicht weiter auf, da es zu dieser Zeit überall knallte.“

Edo Magnalardos Erinnerungen sind andere. Nachdem die Kolonne der italienischen Gefangenen unter der Unterführung der Bahnstrecke zwischen Potsdam und Wittenberg durchgeführt worden war, „trafen wir auf viele Soldaten, die da offensichtlich auf weitere Befehle warteten“. Ein- bis zweitausend Männer in Wehrmachtsuniform seien es gewesen, schätzt Edo Magnalardo. „Der Offizier ging zu einer Gruppe von Kommandanten. Wir konnten nur sehen, dass sie gestikulierten und offensichtlich erregt diskutierten. Irgendwann bekamen sie einen Anruf auf einem Feldtelefon. Was gesprochen wurde, haben wir nicht verstanden.“ Nach einer halben Stunde kam der Offizier zurück und befahl den Italienern, mehrere Munitionskisten mitzunehmen. „Die Kisten habe ich erkannt. Das war Munition, die wir selber hergestellt hatten.“ Die Italiener dachten da noch immer, sie sollten von der Wehrmacht bei einem Angriff als Helfer eingesetzt werden. „Wir haben immer wieder untereinander die verschiedenen Hypothesen diskutiert, wie die Deutschen uns einsetzen würden.“

Noch einmal musste die Gefangenenkolonne marschieren. Eineinhalb Kilometer, bis zum Rand eines Hügels. Am Ende des Hügels lag eine Grube. Edo Magnalardo hebt die Hände, seine Frau Fiorella bittet um eine Pause. Ihr Mann will weitersprechen. „Es ist meine Pflicht.“ Nachdem die Munitionskisten am Rand der Sandkuhle abgestellt werden mussten und die Männer in die Mitte der Grube getrieben wurden, sei er in der ersten Reihe gestanden. Über ihnen, an den erhöhten Rändern der Grube, verteilten sich die Soldaten. Auf einen Befehl des Offiziers begannen sie in die Menschenmenge zu schießen. „Ganz viele haben geschrien und nach ihrer Mutter gerufen. Einer der Deutschen hat höhnisch gelacht und gesagt: ‚Wo ist die Mama?‘ “

Über seine Gefühle in dem Moment, als er unter den Körpern mit dem Gesicht im Sand lag und auf den Tod wartete, spricht Edo Magnalardo nicht. Aber vom Stöhnen der Verletzten und von dem Moment, als den Soldaten offensichtlich die Kugeln ausgingen. Als es plötzlich unheimlich still wurde. Bis dann einzelne Pistolenschüsse begannen, die immer näher zu ihm herankamen.

Edo Magnalardo kann nicht genau sagen, wie lange er unter den Toten lag. Eine Stunde, vielleicht zwei. In Todesangst, entdeckt zu werden. Dann hörte er, wie begonnen wurde, Geröll auf die Körper zu schaufeln. „Ich spürte, wie Erde auf mich rieselte.“ Irgendwann hörten die Schaufelgeräusche auf, es wurde still und dunkel. Dass außer ihm noch Germano Cappello und Giovanni Galasso überlebt hatten, merkte Edo Magnalardo mitten in der Nacht, als er vorsichtig die Toten beiseite schob, um aufzustehen. Ein Mann, der auf seiner Hüfte lag, und ein Mann, der hinter ihm lag, gaben Lebenszeichen. Mit Blut und Erde an ihren Jacken und Hosen liefen die drei Männer bis zum Morgengrauen, schliefen entkräftet auf einem Feld ein und zogen dann weiter, bis sie auf Soldaten der Roten Armee trafen. Den vierten Überlebenden, Vittorio Verdolini, fanden sie erst nach über einer Woche im Krankenhaus von Treuenbrietzen. Verdolini war verwundet worden und hatte sich nachts in den Wald schleppen können.

Auch Italiens Justiz sucht inzwischen nach den Tätern. Als gesichert gilt, dass die Infanteriedivision Theodor Körner der Wehrmacht Ende April in Treuenbrietzen eingesetzt war. Edo Magnalardo hat viel erlebt seit dem April 1945. Er war für die Kommunistische Partei Vizebürgermeister von Chiaravalle, hat in der Tabakindustrie gearbeitet und zwei Töchter und drei Enkelkinder großgezogen. In den letzten zwei Jahren hat er angefangen, öffentlich über das Massaker zu sprechen. „Manchmal fällt es mir schwer, weil ich nicht möchte, dass aus dem Leid nur eine Sensationsgeschichte wird“, sagt er plötzlich müde. Der alte Mann klappt das Fotoalbum zu. Er wartet noch immer auf Antworten. Viel Zeit bleibt nicht mehr.