: Rückschlag für Reformer
Die Beitragslöcher in den Rentenkassen kommen der rot-grünen Regierung auch strategisch höchst ungelegen
aus Berlin ULRIKE HERRMANN
Für die Fachabgeordneten war es nicht einfach in den letzten Tagen. Ständig kursierten neue Meldungen, wie hoch das Defizit in den Rentenkassen ausfallen könnte. Fehlen neun Milliarden Euro? Diese Schreckenszahl hatte der Geschäftsführer des Verbandes der Rentenversicherer, Franz Ruland, vor einer Woche an den Haushaltsausschuss geschickt. Eingerechnet waren schon jene zwei Milliarden Euro, die Finanzminister Hans Eichel (SPD) beim Bundeszuschuss an die Rentenkassen kürzen will. Oder sieht es besser aus? Das schienen die Beitragseinnahmen im September zu signalisieren. Dann wieder hieß es, nein, nein, das sei nur ein Zwischenhoch. Das Defizit würde katastrophal anwachsen.
Eigentlich sollte sich die Spannung gestern auflösen. Seit drei Tagen beraten die Rentenschätzer, die vierteljährlich zusammentreten. Noch gestern Morgen hieß es, sie würden ihre Prognosen am Nachmittag „kommunizieren“. Doch dann wurde nur knapp mitgeteilt, man habe „vor kurzem erst“ beschlossen, doch nicht zu kommunizieren. Vielleicht würde sogar bis Sonntag geschwiegen, bis sich die Regierung zur Rentenklausur im Kanzleramt trifft. Sind die Zahlen so katastrophal?
Nur der DGB wagte sich gestern noch mit einer Defizitprognose vor: Sechs Milliarden Euro würden die Rentenschätzer schätzen. Das wäre nicht viel mehr als schon im Juli. Damals kalkulierten die Schätzer mit einem Defizit von fünf Milliarden und einem Beitragssatz, der – ohne Gegenmaßnahmen – von aktuell 19,5 auf 19,9 Prozent im nächsten Jahr steigt. Die DGB-Prognose würde bedeuten, dass der Beitragssatz die symbolische Marke von 20 Prozent überspringt.
Alles unerfreulich. Schließlich will die Regierung die Sozialversicherungsbeiträge senken. Rot-Grün glaubt fest daran, dass es Arbeitslosigkeit nennenswert reduziert, wenn die Lohnnebenkosten schrumpfen. In dieser Logik ist der größtmögliche Schaden zu befürchten: Steigende Rentenbeiträge würden die minimalen Reformergebnisse bei den Krankenkassen auffressen.
Die Beitragslöcher in der Rentenkasse kommen der Regierung auch strategisch ungelegen. Denn erfahrungsgemäß neigen die Bürger dazu, dass sie kurzfristige Notmaßnahmen und langfristige Reformen nicht unterscheiden können. Und neben den Rettungsaktionen für die Rente 2004 will Rot-Grün ja auch noch erklären, dass ein „Nachhaltigkeitsfaktor“ nötig wird und dass ab 2011 das Rentenalter langsam auf 67 Jahre ansteigen soll.
Die „Kommunikationsprobleme“ häufen sich, wie es genervte Abgeordnete nennen. Eher hilflos wiederholen die Regierungssprecher die offizielle Formel, wo vor das Wort „Rentenpolitik“ stets die Begriffsschleife von den „kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Maßnahmen“ gehängt wird. Daher hat die Rentenklausur am Sonntag durchaus medialen Wert: Die Regierung kann signalisieren, wie prompt sie auf die Schätzer reagiert – und sie hat eine weitere Chance, ihre Reformkonzepte zu erklären. Dies ist auch nötig, weil noch kein Konzept zu erkennen ist.
Um „kurzfristig“ die Rentenbeiträge bei 19,5 Prozent zu stabilisieren, ist Diverses im Gespräch. Einig scheint sich die Koalition, die Rentenerhöhung von Juli 2004 um ein halbes Jahr zu verschieben. Dies spart ungefähr eine Milliarde Euro. Sozialverbände haben bereits eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angedroht. „Keine Erfolgsaussichten“, prognostizierte Ruland.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) würde zudem gern ihre Zusage zurücknehmen, auf zwei Milliarden Euro aus dem Bundeszuschuss an die Rentenkassen zu verzichten. Da stößt sie aber auf massiven Widerstand beim Kollegen Eichel (siehe Kasten). Zusätzliches Problem: Das Parlament entscheidet bereits heute über das „Haushaltsbegleitgesetz“, das den Zuschuss kürzt. Die Grünen wiederum schlagen zur Güte vor, man könne doch die Schwankungsreserve auflösen (siehe Interview). Diese Reserve dient dazu, die übers Jahr unterschiedlichen Beitragseingänge auszugleichen. Auch dagegen setzt sich Eichel zur Wehr.
Unumstritten ist die „mittelfristige“ Idee, einen „Nachhaltigkeitsfaktor“ einzuführen. Er soll berücksichtigen, wie sich das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern entwickelt. Allerdings merkte der ehemalige Rentenminister Walter Riester (SPD) gestern bitter an, dass er diese Idee als „Ausgleichsfaktor“ bereits 2000 vorgeschlagen hat.
Dissens gibt es wieder bei der „langfristigen“ Idee, das Rentenalter ab 2011 schrittweise auf 67 Jahre zu erhöhen. Für den SPD-Parteitag im November sind bereits Gegenanträge angemeldet. Die Gewerkschaften kündigten gestern ebenfalls Widerstand an. Auch Riester wundert sich über diese „eigenartige“ Debatte, die „effektiv in den nächsten Jahren nichts bringt“. Warum also „noch eine schlechte Botschaft herausbringen“? Das scheint sich der pragmatische Medienkanzler auch zu fragen. Schröder will sich erst Sonntag definitiv äußern, wie er es mit dem Rentenalter hält.