BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Bis dass der Mittelfinger uns scheidet
Der Sozialismus tötete meinen Gemeinschaftssinn. Jetzt ist er wieder auferstanden: Der neutralen Schweiz sei Dank
Lange Zeit glaubte ich, die kollektiven Arbeits- und Solieinsätze hätten mich zu einer egoistischen Sau gemacht. Kein Wunder, bei all den gesellschaftlichen Aufgaben: dem Sammeln von Sekundärrohstoffen, den Chorauftritten für die Frauen der Patenbrigade am 8. März, dem Auflesen von Eicheln für die Tiere im Wald, dem Unterschriftensammeln für die Freilassung von Nelson Mandela. Immer sollte ich im Einsatz für die Gemeinschaft sein. Und was bekam ich zurück? Maulkörbe, Reiseverbot und Rosenthaler Kadarka. Bald hatte ich die Schnauze so voll, dass ich versuchte, mich ihr zu entziehen. Um jeden Preis.
Im ersten Jahr an der Uni in Leipzig wurde uns gesagt, wir müssten während des Studiums einen mehrwöchigen unentgeltlichen Arbeitseinsatz leisten. Das nahm ich ohne Murren hin. Zumal die Möglichkeit bestand, diesen in Polen zu leisten. Das war gar nicht schlecht. Denn Mitte der 80er-Jahre konnte man ohne persönliche Einladung nicht mehr einfach so hin. Ich kam in eine Malerbrigade nach Krakau. Wir sollten Bushaltehäuschen anstreichen. Ein richtig guter Job: Für zwölf Leute gab es vier Pinsel, drei Eimer Farbe und einen Chef, der nicht wollte, dass wir uns überarbeiten.
Ein Jahr später wurde wieder zu einem Einsatz geblasen. Ich sollte in der Mensaküche arbeiten. Zwiebeln schälen. Weinen für den Sozialismus? Nicht mit mir. Ein Studentensommer war ausgemacht, nicht zwei. Ich bat meinen Vater, einen Arzt, mich mit einem Krankenschein vor dem Einsatz in der sozialistischen Zwiebelproduktion zu retten. Er lehnte ab. Hätte ich mir denken können. Ich ging zur Studentenärztin. Die durchschaute mich. Hätte ich mir auch denken können. Das Einzige, was mir noch einfiel, war Selbstverstümmelung. Ein gebrochener Finger!
Kernseife schien mir geeignet. Ich klemmte mir ein Stück unter den Mittelfinger der rechten Hand und band ihn mit einer Binde so fest zu, dass die Seife keine Luft mehr bekam – und der Finger kein Blut. Am nächsten morgen, so hatte ich irgendwo gelesen, sollte ich den Finger ganz schnell aufmachen, es würde einen Knacks geben und das Teil wäre gebrochen. Das Resultat: Der abgeschnürte Finger war taub und tat weh. Ich war maßlos enttäuscht und umso entschlossener, mich außer Gefecht zu setzen.
Ich steckte den schmerzenden Mittelfinger in die offene Tür und knallte sie zu. Mehrmals. Es tat saumäßig weh. Aber meine Bereitschaft, umsonst einen Teil meiner Ferien für ein Land zu arbeiten, das viel von mir verlangte und mir wenig gab, war so gering, dass ich dennoch einen Hammer nahm. Zirkel und Ährenkranz hatte ich leider nicht zur Hand. Ich stellte mich vor den Spiegel, um mein schmerzverzerrtes Gesicht zu beobachten. Mit der linken Hand umfasste ich den Hammer und ließ ihn auf den von der Kernseife und der Tür lädierten Finger knallen. Mein lieber Scholli. Das waren höllische Schmerzen. Ich stellte damit zwar den Erfindungsreichtum der Ostler unter Beweis, aber es reichte nicht, um mich vor dem Einsatz zu drücken. Ich musste Zwiebeln schälen und mir blöde Fragen wegen dem Finger anhören, der ordentlich angeschwollen war und am mittleren Teil aus zerfetzten Hautstücken bestand.
Diese Geschichte erzählte ich in den Schweizer Bergen, wo ich mit einem Berner, einem Ostdeutschen und viel Begeisterung Holzvorräte für den Winter anlege, riesige Brennnesselbüsche und verrostete Drahtzäune aus dem Boden reiße – und selbst Zwiebeln gern schäle. Der Ostler, der die verordnete Freiwilligkeit nie in Frage gestellt hätte, machte sich über mich lustig. „Ja, ja, für die Gemeinschaft hast du nichts gemacht. Für die Männer machst du alles.“
Genau. Für solche Leute wollte ich damals keine Zwiebeln schälen. Mein Gemeinschaftssinn verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Es hätte noch gefehlt, er hätte mir vorgeworfen, der Sozialismus sei wegen mir gescheitert. Übrigens: Der Mittelfinger der rechten Hand hat keine bleibenden Schäden davongetragen. Ich kann mit ihm auch im Westen den Stinkefinger zeigen.
Fragen zum Solieinsatz? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN