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Archiv-Artikel

Tel Aviv – Berlin und zurück: Vier Erklärungen

Berlin ist eine Jungfrau, behauptet eine. Berlin ist ein Beispiel für verantwortungsvolle Bürger, sagt der andere. Der Dritte, Berlin habe gelernt, nicht zu vergessen. Warten wir’s ab, fordert der Letzte. Vier junge israelische Journalisten besuchten kürzlich Berlin und schrieben auf, was sie beschäftigte

Ich bin zum ersten Mal in Berlin und fühle etwas Fremdes in der Luft. Zunächst denke ich, dass es nur der Eindruck einer neuen Stadt ist. Doch mit der Zeit wird das Gefühl stärker. Während ich durch die Straßen dieser schönen, einst geteilten Stadt wandere, könnte ich allen gegenwärtigen Ärger, die Sorgen, einfach vergessen. Die historischen Orte, die sauberen, hübschen Cafés, alles gibt ein Gefühl von erfrischender Freiheit.

Doch zwischen dem Checkpoint Charlie und Mitte bemerke ich etwas, das keinen sonst auf der Straße zu interessieren scheint. Ich höre laute hebräische Witze und eine lebhafte arabische Konversation, alles aus einem kleinen Laden kommend. Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Berlin ist eine Jungfrau.

Die Berliner Polizisten schauen ruhig. Als Israeli erwarte ich, dass sie ständig auf dem Sprung sind, unermüdlich auf der Hut. Ich versuche etwas, was in Israel immer funktioniert. Ich nähere mich entschlossen einer Einkaufspassage, meinen großen schwarzen Rucksack auf der Schulter. Natürlich werden mich die Sicherheitsleute sofort anhalten und meinen Rucksack untersuchen wollen. Doch nicht nur dass sich niemand um mich kümmert. Nein, alle tragen unbesorgt Taschen mit sich herum, in denen problemlos tödliche Waffen oder Bomben stecken könnten. Niemanden scheint das zu beunruhigen.

Das seltsame Gefühl, das mich beschleicht, ist einfach ein Gefühl des Vertrauens. Busse fliegen hier nicht mitten am Tag in die Luft. Öffentliche Plätze sind kein Ziel von Terrorattacken. Menschen können hier ihr Leben leben.

Während ich zum Flughafen fahre, um zurück in meine Heimat zu reisen, wünsche ich Berlin, dass es eine Jungfrau bleiben kann. Übrigens, das fremde, schöne Gefühl war am Security Check für meinen Flug gleich wieder verflogen. Ich fühle mich schon wieder zu Hause.

NESLI BARDA

Nesli Barda, 20, arbeitet beim israelischen Fernsehen Channel 10

Die Nacht ist schwer, doch die Luft leicht, und so sitzen wir auf einem Dachgarten direkt am Brandenburger Tor und trinken Bier. Das Brandenburger Tor – ein Denkmal dafür, wie zentral Deutschland heute ist und wie zentral Berlin auf der Achse der Geschichte zwischen Deutschland und Israel ist.

Im Norden die Kuppel des Reichstags. Nur einige Stunden zuvor erstaunte uns die physische Transparenz der neuen deutschen Demokratie – und amüsierte uns die Warteliste, die deren Akteure am Eingang abzuzeichnen haben. Würden Knesset-Abgeordnete sich Tag für Tag pflichtschuldigst ein- und austragen?

Im Süden die russische Botschaft mit ihrer Flagge auf Halbmast wegen Beslan. 330 getötete Kinder. Wir kennen das Gefühl. Einige Blume liegen am Botschaftstor. Wenn Israel in den (besetzten A.d.Ü.) Gebieten Vergeltung übt, hagelt es gewöhnlich beim Sicherheitsrat Verurteilung. Auch wir trauern und versuchen den deutschen Freunden zu erklären, was WIR in einer solchen Situation wie der in Beslan getan hätten.

In der Mitte das dunkle Loch der Baustelle für das Holocaust-Denkmal. Zu niedrig, zu dunkel, zu sehr Understatement. Aber wir sollten abwarten, wie es vollendet im nächsten Jahr wirken wird, bevor wir uns eine Meinung bilden. Hinzu kommt ja noch die neue US-Botschaft, dann wird das Denkmal sich vielleicht in diese Landschaft einfügen.

Weit weg die kinoartigen Lichter auf den Dächern des Potsdamer Platzes. Wir überlegen: Wie werden die Menschen reagieren auf den Film „Der Untergang“, die letzten Tage des Adolf Hitler? Was vor einigen Jahren noch undenkbar erschien, ist jetzt Realität. Wir wollen abwarten und sehen.

Weiter im Westen das KaDeWe. Ah ja. Heute Morgen gönnte ich mir im sechsten Stock Tortellini. Erst saß ich neben einem tunesischen Besucher. Dann holte ich mir Apfelstrudel und stand neben einer älteren jüdischen Besucherin aus Israel. Apfelstrudel, ist das ein Geschmack aus ihren Tagen vor dem Krieg, als sie noch Berlinerin war? Ich traue mich nicht zu fragen.

Das Bier ist ausgetrunken, wir gehen hinunter und spazieren Unter den Linden entlang – und vergleichen sie mit dem Rothschild Boulevard in Tel-Aviv. Hatte ich dort als Kind so viel Spaß wie Emmil Teishbein? Hmmm, ich weiß nicht, aber durch die Brille eines Erwachsenen gewinnt Berlin.

Wir gehen zum Cookies Club, und es ist wie überall: Türsteher, Gesichtskontrolle, egal ob Israel oder Deutschland: Mich lassen sie nie rein. Aber heute ist es anders, wir sind Journalisten und sind o.k. Drinnen geben wir in schlechtem Deutsch Toasts aus: Gutten Nacht Deutchland! Morgen geht es zurück nach Hause. Die Woche in Deutschland war wirklich nur ein flüchtiger Blick.

ASSAF YESHKELLY

Assaf Yeshkelly, 30, arbeitet für den israelischen Fernsehsender Channel 2

Ein Deutscher und ein Israeli sind in einem Raum. Was passiert? Richtig, sie debattieren über „den Holocaust“ oder den „arabisch-palästinensischen Konflikt“. Und was passiert, wenn ein israelischer Journalist etwas über seine Berliner Eindrücke schreiben soll? Natürlich, ich gebe zu, dass mir als Jude und Urenkel eines Holocaust-Opfers, diese dunkle Wolke ständig irgendwo im Kopf herumschwirrt. Als ein Israeli, der Europas Nah-Ost-Politik höchst enttäuschend findet, kann ich darüber stundenlang schreiben, auch darüber, dass die Dinge meist komplizierter sind, als sie scheinen.

Aber ich denke, dass wir eigentlich so viel übereinander lernen könnten, so viel mehr Gemeinsamkeiten haben, dass ich gerne einmal die großen Dinge beiseite lassen würde. Ich möchte vielmehr eine Nebensache ansprechen, die zwar wenig wichtig, aber dafür ebenso viel Bedeutung hat für uns Tel-Aviver wie für die Berliner. Denn auch wir haben ein Problem: Hunde. Besser gesagt, das, was sie so liegen lassen.

Viele Tel-Aviver besitzen Hunde. Sie lieben sie, kaufen ihnen teuerstes Futter und bringen sie sogar zu Tierpsychiatern, wenn sie spinnen. Offenbar aber denken viele Tierbesitzer, dass die kleinen oder größeren Überraschungen, die ihre Vierbeiner zurücklassen, sich offenbar von selbst wieder auflösen und verschwinden. Sie alle sollten sich einmal Berlin ansehen.

In den letzten Tagen bin ich durch Berlin getigert, meistens dabei entdeckend, dass ich stundenlang in die falsche Richtung gelaufen bin und diese Stadt verdammt groß ist. Ich gewann zudem den Eindruck, dass jeder in dieser Stadt einen Hund besitzt. Ältere Damen zwischen Ku’damm und KaDeWe, die Punks am Alex oder die Rentner Unter den Linden.

Sie alle, so schien es mir, bis auf wenige Ausnahmen, sammeln die Hinterlassenschaften ihrer Hunde auf. Entweder habe ich richtig gemutmaßt, oder Berlin verfügt über eine ziemlich effektive Reinigungsmannschaft, was ich aber bezweifle.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Nicht dass das das Erste ist, woran ich denke, wenn ich an Berlin denke. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Sauberkeit ein gewisses bürgerliches Verantwortungsgefühl widerspiegelt, eine Kultur, die die Berliner haben, die den Tel-Avivern bisweilen fehlt. In dieser Hinsicht bin ich ein Berliner (Entschuldigung, aber ich konnte nicht widerstehen, diesen Satz doch noch zu benutzen).

MATAN DRORI

Matan Drori, 26, ist Redakteur bei Maariv, einer liberalen Tageszeitung

Es ist nicht leicht, ein Israeli in Berlin zu sein. Die Last der Geschichte, die ich überallhin mit mir herumtrage, wiegt schwer auf den Schultern. Ein alter Mann sitzt neben mir im Bus durch Berlin. Ich frage mich, Unwohlsein fühlend, was er getan hat, damals. Wusste er Bescheid? War er damit einverstanden? Hat er den Abzugshahn gezogen? Ich bin 26 Jahre alt, ich liebe Berlin. Doch die Geister von sechs Millionen Menschen hören nicht auf, mich zu verfolgen.

Ich habe während der acht Monate in Berlin in einer kleinen Wohnung in Friedrichshain gelebt, kaufte bei Lidl ein, kämpfte mit dem Horror der deutschen Grammatik an der Volkshochschule, freelancte ein bisschen für israelische Magazine und verbrachte meine Nachmittage damit, auf einem alten, rostigen Fahrrad durch diese wunderbare Stadt zu gondeln. Meine Mutter, eine Literatur-Lehrerin, die den kulturellen Reichtum Deutschlands schätzt, kam mich nicht besuchen. Sie schwor, niemals im Leben den Fuß in das Land zu setzen, das ihre gesamte Familie ausgelöscht hatte.

So ist es. Du kannst dem nicht entkommen. Früher oder später wird dich schon irgendjemand daran erinnern, dass du nicht bloß einer dieser Ausländer bist, sondern ein Israeli, ein Jude. Und dass am selben Ort, an dem du gerade sitzt und mit Freunden einen Latte Macchiato genießt, eine ganze Nation am organisierten Massenmord an Leuten wie mir teilgenommen hat.

Aber ich habe gelernt, dass diese Last nicht nur auf meinen Schultern wiegt. Meine deutschen Freunde tragen auch solch eine Last. Auch sie sehen die Vergangenheit überall, und die Schuld ihrer Großeltern ist auch ihre. Wir reden nicht darüber, aber sie ist immer da, eingebettet zwischen uns, egal ob wir tanzen gehen oder in einem Club am Spreeufer Bier trinken.

Liberal, farbenfroh, ereignisreich. Berlin ist heute für viele Israelis ein sehr trendiges Touristenziel oder eine neue Heimat geworden. Wir werden nie vergessen und nie vergeben, sagt ein Sprichwort. Aber anders als die Generation vor uns glaube ich heute, dass die Deutschen ebenfalls nie vergessen und sich niemals vergeben werden.

BOAZ ARAD

Boaz Arad, 26, arbeitet bei Israels größter Tageszeitung Yedioth Achronoth Die vier Journalisten besuchten auf Einladung von journalists.network, einem Netzwerk junger Journalisten, 10 Tage lang Deutschland Übersetzung: AW