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Archiv-Artikel

Leicht gedämpftes Rascheln

Mit dem neuen Wahrheit-Sounddesign beginnt das Zeitunglesen bereits im Ohr

Die Wahrheit hat ihren eigenen Klang: mal laut durchdringend, mal eher dezent zurückhaltend

Motorgetrieben und mit einem sanften Surren öffnet sich die Klappe des neuen silberfarbenen Samsung SGH-P510. Genau so steht es in der Online-Werbung, und das ist Handy-Erotik made in Korea. Es ist das erregende Geräusch, das die Käufer locken soll. Bei Bahlsen basteln Designer am richtigen Knusper-Sound, den ein Leibnitz-Keks beim Abbeißen machen muss, und der Klang einer zuschlagenden Autotür wird bei BMW, Mercedes und Audi längst von Akustikern und Toningenieuren festgelegt. Es liegt auch am Sound, am charakteristischen metallischen Klicken, wenn sich die Raucher der Welt teure Original Zippo-Feuerzeuge anschaffen.

Auch die Papierbranche hat inzwischen den Sound entdeckt. Hakle Lady ist besonders weich und anschmiegsam – und absorbiert fast jedes Geräusch. Zewa Wisch & Weg kann ruhig etwas lauter sein, schließlich darf man durchaus hören, dass hier die Hausfrau am Werk ist. Wie aber müssen Zeitungen klingen, damit sie gelesen werden? Bei der taz kümmert sich inzwischen ein eigenes Entwicklungsteam um das Sounddesign des Blattes. Schon seit einer Weile entwickelt taz-Layouter Kay Böhm in Zusammenarbeit mit dem Institut für Multisensuelle Kommunikation der Technischen Universität Berlin und einem renommierten Papierlieferanten das sinnlich-sanft raschelnde Zeitungspapier. Nur leise rascheln – schrill knistern wie eine alte Peking Rundschau darf die Zeitung nicht. Und mit der Zeit vergilben soll die taz dann auch nicht mehr.

„Wenn wir fertig sind und die komplette taz bundesweit auf neuem Papier erscheint, kommt niemand mehr auf die Idee, tags darauf den Fisch darin einzuwickeln“, sagt Böhm. Aber noch ist es nicht so weit, vorerst erscheinen nur einzelne Pilotseiten innerhalb einer ganz normalen taz auf experimentellem Papier. Dabei ist immer die Wahrheit-Seite, „wegen des multisensuellen Inhalts“.

Aus der neuartigen Papierrezeptur wird zunächst eine Spezialrolle Zeitungspapier angefertigt, die dann mit einem komplizierten technischen Verfahren so in den Rotationsdruck integriert wird, dass immer nur die Wahrheit darauf gedruckt wird – mit einem sehr eigenen Klang. Später soll einmal jedes Ressort seinen eigenen, ganz spezifischen Sound erhalten. Die Sportseite darf etwas lauter sein, und die Seiten mit aktueller rot-grüner Politik klingen dann ein wenig dumpf.

Bis dahin ist es noch ein langer Weg, bislang erscheint nur alle ein bis zwei Wochen eine Wahrheit-Seite unangekündigt auf Testpapier. Das raschelt jedes Mal ein wenig anders, deshalb ist es es immer äußerst spannend, wenn sich Kay Böhm an solchen Tagen mit der jeweils aktuellen taz in sein schallgeschütztes Testlabor im zweiten Stock der Berliner Kochstraße zurückzieht. Wie raschelt die Wahrheit heute? Laut und durchdringend oder eher dezent und zurückhaltend? Wie fühlt sich das Papier an? Ist es schön fest und trotzdem weich – oder eher schlaff wie ein Lappen? Wie reißfest ist es, das heißt, wie viel Kraft muss man aufwenden, um es zu zerstören.

Um all diese Parameter zu ermitteln und in Zahlen zu fassen, hat Kay Böhm eine Reihe von Apparaturen um sich herum aufgebaut. Am auffälligsten sind die empfindlichen Richtmikrofone, die den Raschelsound hundertfach verstärken und das gesamte Klangspektrum in bunten Dezibel-Kurven auf dem Monitor darstellen (remember: ein Dezibel ist ein Zehntel Bel). Ein Pegelsprung von nur zwei Dezibel ist durchaus wahrnehmbar und wird schon als störend empfunden. Auch die Frequenz ist entscheidend: Je niedriger sie ist, umso angenehmer ist es für die Leser. Heute wäre es kein Problem mehr, durch erhöhte Beimischung von chlorfrei gebleichter Kartonagen-Melasse die Frequenz so niedrig zu legen, dass das Rascheln außerhalb des hörbaren Bereichs stattfinden würde. Das aber würde auf Akzeptanzprobleme stoßen, weil es der Erwartungshaltung widerspricht: Eine Zeitung muss rascheln! Raschelt sie hingegen in zu hoher Frequenz, klingt sie wie eine leere Zellophantüte.

Die Spektralanalyse ist deshalb extrem wichtig, nur so kommt man zu reproduzierbaren Ergebnissen. Kay Böhm hat seine ideale Frequenzkurve schon fast gefunden, demnächst soll sie von der TU in einer aufwändigen Akzeptanzstudie mit vielen Probanden verifiziert werden.

Mit dieser leserfreundlichen Innovation setzt die Wahrheit wieder einmal Maßstäbe auf dem Zeitungsmarkt und steigert das Wohlbefinden der Leser: Jeden Morgen ein audiohaptisches Erlebnis, das seinesgleichen sucht. DIETER GRÖNLING