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Archiv-Artikel

Am Beispiel der Currywurst

Auch in diesem Jahr soll die Stadt Hamburg wieder ein Buch lesen. Dieses Mal hat die Kulturbehörde Uwe Timms „Die Entdeckung der Currywurst“ zur Pflichtlektüre aller U-Bahn-Fahrer erkoren

Uwe Timms Novelle, die am Großneumarkt spielt, bietet zahlreiche Schlüsselreize für lokalpatriotische Wallungen

von Jana Babendererde

Pointierter als mit dem Titel der von Kultursenatorin Dana Horáková ins Leben gerufenen Veranstaltungsreihe „Eine Stadt liest ein Buch“ sind die letzten beiden Jahre Hamburger Kulturpolitik wohl kaum zusammenzufassen. Ungewollt parodistisch klingt in ihm der gesamte Antiintellektualismus und Konformitätszwang des Rechtssenats an.

Nach Siegfried Lenz, dessen Mann im Strom im vergangenen Jahr rauf und runter gelesen wurde, trifft es in diesem Jahr nun den 1940 in Hamburg geborenen und heute in München lebenden Autor Uwe Timm. Acht Tage lang wird seine Novelle Die Entdeckung der Currywurst Gegenstand zahlreicher Lesungen zum Beispiel in Bücherhallen, U-Bahnen und im Dollhouse, literarischer Spaziergänge, einer Ausstellung, von Schreibwerkstätten und Erinnerungsabenden in Altersheimen sein. Nicht zuletzt hat sich die Kulturbehörde auch für dieses Buch entschieden, weil, so Horáková, es „ein Hamburg-Text ist, den man auch in einer Woche schaffen kann“.

Nun bietet das vor zehn Jahren erstveröffentlichte Buch zahlreiche Schlüsselreize für lokalpatriotische Wallungen. Die am Großneumarkt angesiedelte Fiktion war sogar schon Anlass für einen ernsthaften Streit zwischen Berlin und Hamburg. In einem Gedenktafel-Battle fochten die Städte noch vor wenigen Monaten um die Urheberschaft des Rezepts für die pampige Wurst.

Für Uwe Timm aber ist der Geschmack des Imbiss-Dauerbrenners bloß Auslöser eines Erinnerungstextes an die Zeit um das Ende des Zweiten Weltkriegs. Vom Erzähler danach befragt, wie sie auf das Curry-Rezept gekommen sei, packt die über 80-jährige Imbissbudenbesitzerin Lena Brücker über „ihre“ Jahre ‘44/‘45 aus – und darüber, wie die Liebe zu einem ihretwegen spontan desertierten Soldaten den kreativen Prozess beflügelt hat. Diese literarischen Bilder aus Hamburger Trümmerjahren hat Isabel Kreitz 1996 kongenial in einen Comic übersetzt.

Auf die Bevölkerung von „Klein Moskau“, wie die Gegend seinerzeit hieß, ließ der ehemalige Kommunist Timm in Die Entdeckung der Currywurst nichts kommen. Einer Beteiligung der „kleinen Leute“ an Nationalsozialismus und Judenvernichtung fühlt er erst mit seinem jüngsten Buch auf den Zahn. In Am Beispiel meines Bruders tritt Timm in einen fiktiven Austausch mit seinem an der Front bei Kiev gefallenen Bruder und anderen Verwandten über die Gedanken und Taten, mit denen sie das Regime unterstützt haben.

Auch wenn man einigen von Timms Figuren mehrfach begegnen kann, bilden seine über zwölf veröffentlichten Bücher keinen geschlossenen Kosmos. Wie er Aspekte von Die Entdeckung der Currywurst in Am Beispiel meines Bruders neu überdacht hat, revidierte er auch andere seiner Romane. Der inhaltlich veränderten Perspektive korrespondiert dann auch eine formale Veränderung: Seinen 1974 erschienenen Erstling Heißer Sommer beispielsweise, eine Rückschau auf die 68er-Bewegung, überdachte Timm 2001 mit dem Roman Rot nicht nur erneut, er ersetzte darüber hinaus die realistische Schreibweise des ersten durch eine experimentellere Struktur.

Auch thematisch war Timm oft beweglicher als manche seiner Kollegen. Schon 1978 nahm er sich mit dem Montage-Roman Morenga des vergessenen Aufstands der Herero und Hottentotten im damaligen Deutsch-Südwestafrika an, lange bevor Gerhard Seyfried 2003 Herero veröffentlichte. Uwe Timm zählt damit wohl zu den nachdenklichsten Schriftstellern in diesem Land. Er hätte es verdient, dass seine Geburtsstadt mit mehr als der Lesung von Die Entdeckung der Currywurst würdigt. Immerhin: Auf der Abschlussveranstaltung zur Reihe im Literaturhaus am 14. November wollen der Journalist Ulrich Greiner, Timms ehemaliger Lektor Martin Hielscher und und der Hoffmann & Campe-Verleger Rainer Moritz auch über das Gesamtwerk Timms sprechen.

Das komplette Programm unter www.hamburgliesteinbuch.de