: „Das Privileg für Reiche abschaffen“
Die SPD hat Willy Brandts Ziel verfehlt, mehr Menschen aus bildungsfernen Schichten an die Unis zu holen. Das beklagen junge Sozialdemokraten. Sie fordern, Bildungsgerechtigkeit neu zu definieren – zum Beispiel über „nachgelagerte Studiengebühren“
Interview OLIVER HAVLATund CHRISTIAN FÜLLER
taz: Herr Lange, war ja irre clever, der Vorstoß der SPD-Netzwerker zu Studiengebühren.
Christian Lange: Wir wollten die Diskusssion in der Partei beleben. Die Frage, was heute soziale Gerechtigkeit ist, stellt sich – gerade für die SPD.
Rot-Grün hat alle Mühe, sein Reformvorhaben in Gesetze zu verwandeln. Und da kommt ein SPD-Netzwerk und stellt infrage, was schon im Gesetz steht.
Es geht uns nicht um Gesetze. Wir zielen auf das Grundsatzprogramm der SPD. Wir versuchen, den roten Faden wieder aufzugreifen, den die Politik verloren hat. Es gilt, neu zu definieren, was heute Chancengerechtigkeit, was Freiheit, was Verantwortung bedeutet in unserer Gesellschaft. Dazu gehört das Thema Bildung. Unser Bildungssystem ist der Schlüssel für Chancengerechtigkeit in Deutschland – die zentrale Frage der Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
Ist Bildung wichtiger als die Reform der Sozialsysteme?
Wenn wir uns über die Grundwerte der Sozialdemokratie unterhalten, ja. Es reicht nicht, Wohlstand zu verteilen, wir müssen Chancen für die Menschen schaffen.
Was verstehen Sie unter Bildungsgerechtigkeit?
Sie hat das gleiche Ziel wie vor 30 Jahren. Nämlich den Zugang zu Bildung für jeden zu öffnen. Diese Chancengleichheit gibt es aber nicht mehr. Ein Beispiel: Nur noch 12 Prozent der Studierenden kommen aus Arbeiterhaushalten. Ein Anteil, der seit einigen Jahren stetig abnimmt – obwohl deutsche Hochschulen immer gebührenfrei waren. Da frage ich mich: Stimmt unser Ansatz, oder führt die SPD eine ideologische Instrumentendebatte?
Sie meinen: Über Studiengebühren?
Unter anderem, ja.
Und deswegen fordern sie nun deren Einführung. Wollen Sie das bezahlte Studium?
Nein, wir Netzwerker wollen zuallererst wieder über Ziele sprechen. Was ist unser Ziel? Ich will, dass Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig ist. Ich will, dass jeder, egal wo er herkommt, an unseren Hochschulen studieren kann. Das ist nicht der Fall in Deutschland.
Und zweitens wollen sie Studiengebühren?
Noch mal nein. Wir fordern zweitens, mehr Geld in Bildung und Forschung zu stecken. Damit wir den immensen Rückstand gegenüber anderen Ländern aufholen. Und aus der grotesken Schieflage herauskommen, in die wir geraten sind. Der Bundesetat stellt 114 Milliarden Euro für den Schuldendienst und für Renten zur Verfügung – aber nur 12 Milliarden für Forschung und Bildung. Da kann von Generationengerechtigkeit überhaupt keine Rede sein. Ich nehme das als jüngerer Abgeordneter nicht einfach hin und behaupte, das sei sozial gerecht. Es ist das Gegenteil. Deswegen stellen wir hier, auf dem Parteitag in Bochum, auch den Antrag, die Kürzungen im Bildungsetat des Bundes zurückzunehmen.
Das ist lobenswert. Aber im Übrigen wollen Sie auch Studiengebühren. So steht es doch in ihrem Netzwerkpapier drin.
Wir sagen, dass nachgelagerte Studiengebühren möglich sein sollten.
Was ist denn das? Hört sich an, als arbeiteten die SPD-Netzwerker in einer Lkw-Werkstatt.
Nachgelagerte Studiengebühren bedeuten, dass man später zahlt, nach dem Studium. Das ist ja auch so eine Lüge in der Debatte. Wir wollen niemanden während oder vor dem Studium zur Kasse bitten. Es geht darum, dass Leute wie ich, die heute ordentliches Geld verdienen, weil ihnen der Steuerzahler vor vielen Jahren ein Studium finanziert hat, dass diese Leute wieder etwas zurückbezahlen. Im Moment ist das nicht so. Der Schlosser und die Putzfrau zahlen das Studium für den Arztsohn und den künftigen Bundestagsabgeordneten wie mich. Der Status quo ist ein Privileg für Wohlhabende. Das hat nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun.
Wie wollen Sie die Gerechtigkeit wieder herstellen?
Indem wir das Privileg für Reiche abschaffen. Und Studenten dazu anhalten, nach ihrem Studium Gebühren zu entrichten, wenn sie einen gut dotierten Job haben.
Allein darüber zu reden schreckt die jungen Leute vom Studium ab. Niemand will auf einem Berg Schulden sitzen.
Eigentum, auch hohes Einkommen ist sozial gebunden. Diejenigen, die es geschafft haben, sollen, bitte schön, etwas zurückgeben. Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass dort der Anteil der Arbeiterkinder an Universitäten höher ist als bei uns – trotz echter Studiengebühren.
Wir verstehen den Zusammenhang schon. Aber wir sehen nicht, dass die Einführung von Gebühren irgendetwas an der Schieflage ändern würde. Warum sollte sich der Anteil der Arbeiterkinder an den Unis erhöhen, nur weil sie Studiengebühren verlangen?
Deswegen sind Studiengebühren ja auch nur ein Teilaspekt dessen, was wir unter Bildungsgerechtigkeit verstehen. Wir wollen, dass Kindertagesstätten künftig einen Bildungsauftrag haben – und dass sie nichts mehr kosten. Es ist wichtig, den Anteil von Abiturienten von jetzt 33 Prozent deutlich zu erhöhen. Das Netzwerk fordert Ganztagsschulen. Schulen müssen besser ausgestattet werden. Und wir müssen Durchlässigkeit herstellen. Auch diejenigen, die nicht über das Gymnasium, sondern z. B. als Meister kommen, müssen die Chance auf ein Studium haben. So sieht Bildung von morgen aus.
Hört sich alles prima an – in der Theorie. Die Praxis sieht es anders aus. Zum Beispiel in Berlin. Hier wird die neue Bildungsgerechtigkeit von SPD und PDS ganz anders hergestellt: Die Kindergärten werden noch teurer – und obendrein sollen bald Studiengebühren fällig werden. Das finden wir merkwürdig.
Das finde ich auch merkwürdig. Denn die wichtigsten Voraussetzungen für Chancen werden im Alter zwischen drei und acht Jahren geschaffen. Und ausgerechnet da kassieren wir Gebühren, und zwar happige. Ein Schlosser, der etwa 900 Euro im Monat netto verdient und zwei Kinder hat, drückt 200 bis 300 Euro für den Kinderhort ab. Das ist doch nicht gerecht.
Warum thematisieren gerade jüngere Politiker Bildungsgerechtigkeit unter einem neuen Blickwinkel? Ist das eine Generationenfrage?
Vielleicht weil wir selbst die Erfahrung des Mangels gemacht haben. Wie war denn die Bildungssituation, als wir studierten? Ich war an einer Universität, wo es kaum Mittel für Bücher in den Bibliotheken gab, wo 500 Leute mit mir gleichzeitig begonnen haben. Keine tollen Zustände. Daran will ich etwas ändern.
Waren die Errungenschaften der Politikergeneration vor ihnen, etwa das gebührenfreie Studium, denn falsch?
Nein, die Idee ist richtig. Nur, man hat das Ziel nicht erreicht, nachhaltig mehr Menschen aus so genannten bildungsfernen Schichten an die Hochschulen zu holen. Die Bilanz ist negativ. Wir haben es nicht geschafft.
Kann man Willy Brandts Öffnung der Bildungseinrichtungen mit Studiengebühren erreichen?
Wer hat denn von der Öffnung profitiert? Kinder aus Angestellten- und Selbstständigenhaushalten, Kinder von Beamten. Ich bin überzeugt davon, dass Willy Brandt diese Entwicklung nicht hinnehmen würde. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass wir ein Verursacherprinzip einführen: Wer profitiert, der zahlt später auch dafür. Und dass wir insgesamt mehr Mittel für Bildung und Qualifikation bereit stellen.
Das hat die Regierung, die Sie stützen, schon 1998 versprochen. 2003, also fünf Jahre später, wacht das Netzwerk auf und stellt fest, dass das Versprechen nicht gehalten wurde.
Bis 2002 haben wir es gehalten. Aber es ist doch keine Frage, dass Rot-Grün bei der jetzigen Haushaltssituation Schwierigkeiten hat, in der praktischen Politik zu erreichen, was wir programmatisch wollen. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt die Grundwerte der Partei mit definieren. Selbstverständlich müssen wir organisieren, dass das auch praktisch wird. Deswegen stellen wir ja schon fleißig Anträge.
Noch einmal: Sie hauen in die gleiche Kerbe wie Rot-Grün. Wer sagt, dass Sie es diesmal ernst meinen?
Wir sind eine andere Generation. Dass wir so früh an Programmatik interessiert sind, ist neu. Wir haben damit das Monopol gebrochen. Die SPD war bislang von einer bestimmten Altersschicht dominiert …
… die Sie nun als Türöffner benützt. Sie dürfen ein bisschen Freidenker spielen, um für Müntefering und Co Instrumente der Haushaltssanierung wie Studiengebühren zu enttabuisieren.
Die wollen das doch alle nicht. Unser Debattenbeitrag wurde nicht etwa dankbar aufgenommen, sondern ideologisch verbrämt. Viele verkennen unsere Diskussion. Sie verkennen sie als Finanzierungsinstrument in einer Finanzkrise. Wir glauben, dass das heutige System sozial ungerecht ist, sie glauben, es sei sozial gerecht.
Jeder Finanzminister freut doch sich über ihr Gebührenmodell. Es braucht nur einen kleinen Dreh an den Freibeträgen – und sie haben ordinäre Uni-Gebühren.
Nachgelagerte Studiengebühren haben ihren eigenen Charme. Sie besitzen im Vergleich zu klassischen Studiengebühren einen klaren Wettbewerbsvorteil – sie schrecken nicht vom Studium ab. Im Übrigen soll das Aufkommen aus den Gebühren den Universitäten selbst zugute kommen. Es wird ein zusätzlicher Anreiz für die Fakultäten sein, bessere Studienbedingungen zu schaffen. Darum geht es …
… Ihnen vielleicht mit Ihrer neuen Wahrheit über das Bildungssystem. Gleichzeitig sagen sich CDU-Länder wie Niedersachsen oder das Saarland: Was sollen wir mit diesem komplizierten Modell, wir führen stinknormale Gebühren ein!
Das ist eben der Unterschied zwischen rechts und links in unserer Gesellschaft, zwischen Christdemokraten auf der einen und Sozialdemokraten auf der anderen Seite. Die einen wollen es als Finanzierungsinstrument, um die staatlichen Haushalte zu sanieren. Und wir wollen es, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. Es ist doch prima, dass es diesen Unterschied gibt.
Fotohinweis: CHRISTIAN LANGE, 39, Ex-Juso, Ex-Gebührengegner, heute MdB aus Backnang
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