: Die besten Spieler im Umkreis
Auf Helgoland, Deutschlands einziger Hochseeinsel, 70 Kilometer vom Festland entfernt, gibt es einen Fußballklub, den VfL Fosite Helgoland. Der spielt in keiner Liga, weil das zu schwierig ist. Es ist schon schwierig, überhaupt Fußball zu spielen, auf einem Eiland, auf dem das Salz den Rasen zerfrisst
VON ROGER REPPLINGER
Wenn die Sonne rot glühend untergeht und sich Dämmerung übers Meer schiebt, dann ruft Ecki: „Enne mach ma Licht.“ André „Enne“ Bouquet antwortet: „Jo“ und macht sich gemessenen Schritts auf den Weg. „Mach ma hin“, nörgelt Ecki, der weder den Ball noch seine Mit- und Gegenspieler sieht. „Jo“, brummt Bouquet. Dann geht das Flutlicht an und als Enne zurück an der Seitenlinie ist, brüllt Ecki: „Nur auf unserer Seite, drüben nicht, das ist doch all unser Geld.“ Eckhard „Ecki“ Müller ist Kassenwart und leitet die Sparkasse. Mit Geld kennt der sich aus.
Und wieder brummt Enne „jo“, was diesmal „nein“ heißt. Weil er jetzt erst mal ein Bier trinkt, das er von dort, wo man das Flutlicht einschaltet, mitgebracht hat. „Auch eins?“, fragt er.
Auf Helgoland, Deutschlands einziger Hochseeinsel, 70 Kilometer vom Festland entfernt, gibt es einen Fußballklub, den VfL Fosite Helgoland, der spielt in keiner Liga, weil das zu schwierig ist. Es ist schon schwierig, überhaupt Fußball zu spielen, auf einem Eiland, auf dem das Salz den Rasen zerfrisst. Deshalb musste ein Kunstrasen her, um den Ecki betete, als der Orkan Kirsten am 12. März 2008 über Helgoland fegte und Ecki seinen 350.000 Euro teuren Platz mit den 120 Tonnen Sand und 60 Tonnen Gummigranulat schon aufs Meer hinausgefegt sah. Aber dann war am nächsten Morgen noch alles an seinem Platz.
Der Platz hat 60 auf 90 Meter, die kleinste noch zugelassene Größe. Kleiner Platz, dafür krumm. „Wer sich flach auf die rechte Seite legt, und einen Ball auf die linke, sieht den Ball nicht“, sagt Ecki stolz.
Die Neigung hat was mit der Drainage des alten Platzes zu tun. Im Jahr 2002, nach einem Spiel im Toto-Lotto-Pokal, wurde der gesperrt. Unbespielbar. „Im Pokal sind wir manchmal bis in die vierte Runde gekommen, gegen Landesligisten. Da war dann Schluss“, erzählt Ecki. Der VfL Fosite ist Mitglied im Hamburger Fußball-Verband, und darf im Pokal immer zu Hause antreten. Kreisligisten gucken sich um, weil es rau zugeht – auf und neben und über dem Platz.
Nach der Platzsperrung wurde Geld gesammelt – für einen Kunstrasen. Helgoland bot sich als Trainingsquartier der deutschen Nationalmannschaft an, drohte mit Austritt aus der Fifa, der VfL ließ seine Kinder am Strand trainieren und dabei fotografieren. Nicht alles war ernst gemeint. Professor Arne Leibusch, seit Jahrzehnten ein Kenner des Sports in Nordeuropa und im diplomatischen Dienst der Fifa, sah den Welt-Fußballverband durch die Austrittsdrohung der Helgoländer „vor einer ernsten Zerreißprobe“. Helgoland ist zwar nur auf Rang 206 der Fifa-Weltrangliste, noch hinter Amerikanisch-Samoa, doch war der Fifa Helgoland so wichtig, dass sie Leibusch los schickte, um mit Ecki und den anderen zu verhandeln. Der Professor brachte kein Geld mit, versicherte aber, dass die Fifa in „uneingeschränkter Solidarität“ zu Helgoland stehe.
Der VfL Fosite fand andere Wege, den Platz zu finanzieren und ist in der Fifa geblieben. „Vorerst mal“, sagt Ecki. Fußball auf Helgoland – das ist nicht nur der Wind, das Salz, die Entfernung zum Festland, da sind auch die Mücken, die in kleinen, aber dichten Schwärmen am Rand des Fußballplatzes nach Blut suchen und es in den Adern argloser Menschen finden. Angesichts all dieser Plagen ist Ecki „froh über jeden, der uns besucht“. Sieben Freundschaftsspiele gab es in dieser Saison, das letzte am 3. Oktober. „Dann will keiner mehr kommen“, sagt Enne. Gastmannschaften werden im Gästehaus des VfL untergebracht. Viele Doppelstockbetten in kleinen Räumen, spartanisch, 15 Euro pro Mann und Nacht inklusive Bettwäsche. Wer aufpasst, schläft nicht mit Mücken.
Es gibt Gäste, die bringen ihr Bier mit. Da waren die Bayern mit ihrem 50-Liter-Fass Starkbier. Alle zusammen haben das Fass erledigt. „Jo“, nickt Ecki. War also toll. Es gibt auch Nachwuchs: 22 Kinder im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren werden von Michael Becker trainiert. Wenn es das Wetter erlaubt auf dem Kunstrasenplatz, wenn der Wind die Kinder wegweht oder der Regen sie ertränkt oder die Mücken sie aussagen, dann in der Halle. Die Kinder spielen gerne Fußball, versichert Becker. Die können das ab.
Vor kurzem kam der Nachwuchs des TSV Selent, an der Plöner Seenplatte in der Nähe Kiels gelegen, nach Helgoland. „Die waren etwas größer als unsere, wir verloren 2 : 9“, sagt Michael Becker, der einen privaten Pflegedienst hat.
Der Torwart der ersten Mannschaft, Heiko Ederleh, hat ein Transportunternehmen. Sven Köhn ist blond, braungebrannt, und arbeitet auf dem Wasser: morgens Hummerfischer, dann Anlandungsdienst, abends Angelfahrten mit Touristen. Benjamin Kiewitt ist Koch in einer Fischräucherei. Die Jungen nennen ihn „Schnitzel“, die Älteren „Neckermann“. Weil schon der Großvater so hieß. Das kommt daher, dass es mehrere Familien Kiewitt auf Helgoland gibt, die man auseinander halten muss.
Von den 1.300 Helgoländern ist fast jeder Zweite im VfL, dem größten Verein der Insel, der eine ganze Reihe von Sportarten anbietet. Benannt ist der Verein nach „Forseti“, in der nordischen Mythologie der Gott für Recht und Gesetz. An diesen Gott sollen die Helgoländer geglaubt haben, was den christlichen Missionaren missfiel.
Die Spieler Kai und Ulf Martens sind Fans des FC St. Pauli, Juwelier Mathias Kaufmann steht auf Werder Bremen, der geborene Pinneberger Sven Lübers liebt den Hamburger SV. Für alle gilt: Bundesliga bedeutet eine Zwei- bis Drei-Tages-Reise. „Schiff oder Flugzeug, der Flieger kostet gleich 250 Euro, aber wenn man schon mal den Fuß aufs Festland setzt, dann erledigt man gleich ein paar andere Dinge“, erklärt Lübers. Arztbesuche, Behörden, Einkaufen.
Hoppla, Lübers hat einen Ball ins Gestrüpp gejagt. Da liegen so viele drin, dass der Spieler, der den Ball suchen muss, nicht immer den mit bringt, den er rein geschossen hat. Aber ins Meer, 100 Meter Luftlinie entfernt, ist noch keiner geflogen. Eigentlich schade, weil der Ball was vom Fußball auf Helgoland erzählen könnte. Als das Team nach dem Training im Gästehaus beim Bier sitzt – die Helgoländer lassen es zischen – sagt Jörg „Shadow“ Thiemann, Mittelfeldspieler, 32 Jahre alt: „Ich bin einer der besten Spieler im Umkreis von 65 Kilometern. Wer kann das schon von sich sagen?“
So lange Fische nicht Fußball spielen, ist das wohl so.