strafplanet erde: nimm diesen walzer von DIETRICH ZUR NEDDEN :
Der Kulturtourismus nimmt seltsame Formen an, dachte ich blitzgescheit wie so oft, nachdem wir, kaum gelandet, irrtümlicherweise in die Literaten-Lounge des Wiener Flughafens geleitet worden waren.
Ein Raum, dessen Einrichtung das Kaffeehaus zitierte, Gäste auf Thonet-Stühlen um die paar Tische herum und ein Kellner, der sich von den Handzeichen der Bestellwilligen nicht hetzen ließ. Traditionsbewusst wertete er Dringlichkeit als Zudringlichkeit und ignorierte die Ungeduld. Obszön-grelles Licht, die Lautstärke ganz leise gedämpft, als ob die Anwesenden zum Flüstern verpflichtet seien. Oder lauschten sie der Musik? „Now in Vienna there’s ten pretty women / There’s a shoulder where Death comes to cry …“
Von der Decke der Literaten-Lounge hingen in amputiertem Walzertakt zwei Stoffbahnen herab. Auf der einen war zu lesen: „Den Autoren wird jetzt geraten, Erlebnisse zu haben. Es dürfte ihnen nicht helfen. Denn wenn sie erleben müssen, um schaffen zu können, so schaffen sie nicht. Und wenn sie nicht schaffen müssen, um erleben zu können, so erleben sie nicht.“
„Was zum Nachdenken“, analysierte meine erlebnishungrige Begleiterin. Ich stimmte ihr zu, weil der Kosmopolit in mir darauf hinwies, mindestens seit Kindertagen befände er sich in einer Schaffenskrise. Auf dem zweiten Banner stand: „Der geistige Leser hat das stärkste Misstrauen gegen jene Erzähler, die sich in exotischen Milieus herumtreiben. Der günstigste Fall ist noch, dass sie nicht dort waren. Aber die meisten sind so geartet, dass sie eine Reise tun müssen, um etwas zu erzählen.“
„Der geistige Leser … damit sind wir nicht gemeint“, sagte ich probehalber und wir nutzten einen unbeobachteten Moment, schlüpften durch die Kontrollen und nahmen einen Bus in die Stadt. Sie hatte auf das Kleingedruckte geachtet, die Quellenangabe auf den Bannern und sich erkundigt. Karl Kraus’ Grab ist auf dem Zentralfriedhof: „Gruppe 5 A, Nr. 33.“ Nichts wie hin, hinein ins pralle Leben, in den herbstkühlen Nieselregen, der das passende Fluidum zur Verfügung stellte. Einige Autoren, die man mit Wien verbindet, deren Spuren man sucht, ihre Gräber findet man nicht. Warum wohl? „Denk mal nach. Wie in Berlin auch. Emigriert, verhaftet, verschleppt, ermordet oder vertrieben“, sagte sie.
Hier noch ein paar von den Fotos, die ich gemacht habe, während wir das Programm absolvierten, das der Portier für uns zusammenstellte: das grandiose Naturhistorische Museum, die „Infrarote Wellnessstube“ in der Schönbrunnerstraße, das Palais Ferstel, wo es hoch herging beim 13. Treffen des „International Coordinating Council“ der Transsibirischen Eisenbahn. Nicht im Bild: Freuds Eintrag vom 31. Oktober 1929 in seiner „kürzesten Chronik“: „Im Nobelpreis übergangen.“ Zwischendurch klapperten wir die Kaffeehäuser ab, nachts rammenterten Schwerlaster durch das Hotelzimmer.
Zwei Tage später fuhren wir mit dem Zug nach Prag. In der Bahnhofshalle hing ein Transparent vom Gewölbe herab: „Fährt man irgendwohin, so reist man ja immer nur seiner missverstandenen eigenen Natur nach.“ Soll Kafka gesagt haben.
Wir stürzten ins Büro für Kulturtourismus.