: Ungeschriebene Briefe an die Väter
Kafkas innerer Terror und der nach außen gewendete Zerstörungstrieb unserer Zeit: Der Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft führt nicht mehr zur Abwesenheit Gottes und des Gesetzes, sondern zu einer Radikalisierung der Tradition. An die Stelle des Künstlers ist der Attentäter getreten
VON ZAFER ȘENOCAK
„Es war auch unmöglich, dass die paar Nichtigkeiten, die Du im Namen des Judentums, mit einer ihrer Nichtigkeit entsprechenden Gleichgültigkeit ausführtest, einen höheren Sinn haben konnten. […] wäre Dein Judentum stärker gewesen, wäre auch dein Beispiel zwingender gewesen“, schreibt Franz Kafka in seinem Brief an den Vater.
Der Vater ist Repräsentant des Gesetzes. Die Familie ist das Gericht. Das Gesetz ist die versprachlichte Tradition. Doch seine Autorität ist angegriffen, weil die sinnliche Ausstrahlung der Sprachbilder, die moralische Überzeugungskraft der Legenden und Parabeln aus den heiligen Texten nicht mehr mit dem Wortlaut des Gesetzes korrespondieren. Die Liste der Ge- und Verbote kann lang sein, sie wird zur Nichtigkeit in der Lebenspraxis, wenn der Bezug zum Glauben verschwunden ist. In der Leere des Gesetzes herrschen Angst und Orientierungslosigkeit. Es ist der Grundzustand der modernen menschlichen Seele, die in einem immer leistungsfähigeren Körper ein Exilantendasein führt.
Der Vater braucht die Familie, um Recht zu sprechen und seine Autorität zu verwirklichen. Die Familie aber ist zerrüttet, sodass eine Leere um den Vater herum entstanden ist. In dieser Leere verpufft jede Rebellion. Das literarische Werk Franz Kafkas ist auch ein Ausdruck für die Aussichtslosigkeit eines sinnhaltigen Protests. Der Schritt von ihr zur Negation utopischer revolutionärer Ideologien ist nicht weit.
Die Assimilierung religiöser Tradition in einer säkularisierten Gesellschaft setzt Zersetzung der Familie voraus, denn der Vater hat Glaubwürdigkeitsprobleme. Er beruft sich auf eine Tradition, die er nicht mehr repräsentiert. Wenn die Sprache ihre Deutungshoheit über die Zeichen verliert, die Lehre der Väter versagt, während Blut als Identitätsmal weiter das Denken bestimmt und das Denken blutleer geworden ist, zieht sich die Überlieferung der Tradition auf Symbole zurück. Das Gesetz ist ein leerer Rahmen. Ohne jeden Sinn erwartet der Vater seine Einhaltung. Ein Symbol; seine einzige Funktion ist die einer Markierung. Es markiert die gesetzte, vorgeschriebene Identität.
In der modernen Welt denkt man nicht mehr, um dazuzugehören, sondern um sich abzusondern. Gemeinschaft ist nur möglich, wenn Denken ersetzt wird von einer Chiffrierung des Geistes, in der das Formelhafte das Prozesshafte ablöst, nicht hinterfragbare Symbole allgewaltig Macht ausüben und die innere Struktur des Ich von außen nicht mehr erreichbar ist. Die klassische Rebellion der Söhne gegen die Väter bleibt also aus, dafür gibt es eine Rebellion aus der symbolhaften Tradition heraus, eine „Talibanisierung“ des Glaubens, Verhärtung, kämpferische, aggressive Selbstbehauptungsrituale, gekoppelt an einen unbändigen Selbstzerstörungstrieb.
Das Gesetz ist nicht mehr gültig, also gibt es gar kein Gesetz. Es folgt eine Verwahrlosung sittlicher Werte, nicht durch die Umwertung traditioneller Werte, sondern durch ihre Radikalisierung und Zuspitzung, motiviert durch die Erinnerung an das Aufgegebene. An die Stelle der eigenen Normen ist in der traditionellen Welt der orthodoxen Gläubigen nicht die säkulare, globalisierte Kultur des Westens getreten, sondern die bruchstückhafte Erinnerung an die Tradition, entlang gesellschaftlich nicht mehr relevanter Gesetzeslinien.
Aus der gescheiterten Assimilation wird der Begriff der Integration geboren, der nicht weiterführt, weil die Erwartung der Assimilation ungebrochen weiterwirkt, unerfüllbar und dennoch eingefordert, eine Quelle der Enttäuschung und des Misstrauens.
Die Familie, wäre sie intakt, hätte durch ihre Bildungs- und Gerichtsfunktion für einen stilleren Übergang, eine zivile Transformation sorgen können. Doch an die Stelle der Familie als Instanz der Zugehörigkeit tritt das Geschlecht und sein bündisches Verlangen nach Abwehr und Gleichschaltung. Das männliche Ritual der Söhne entspringt aus der lächerlich unbedeutenden, sinnentleerten Präsentation der Tradition durch den Vater. Die Auflösung der sozialen Institutionen wie Familie, Kirche, Schule in der späten Moderne hat entweder das lose, ungebundene Individuum oder das eingebundene, mit Markenzeichen definierte Mitglied geschaffen. Beide Existenzen leiden an Psychosen. Die Melancholie der Ersteren wandelt sich bei den Zweitgenannten in cholerische Wut um. Die sozialen und intellektuellen Normen der offenen Gesellschaften, ihre Ideale wie Konsensfähigkeit, Kommunikation, Selbstbestimmung und persönliche Freiheit des Einzelnen kollidieren mit den Gruppenideologien.
Wir erleben heute keinen Konflikt mehr zwischen den Religionen, sondern eine Auseinandersetzung in den Religionen und in den von ihnen beeinflussten Kulturen selbst, eine Art Glaubensbruderkrieg. Der von säkularisierten Gesellschaften domestizierten Form des Glaubens stehen fundamentalistische Lesarten gegenüber, die nicht eine Glaubensvariante unter anderen darstellen, sondern die ewige und allgemein gültige, göttliche Wahrheit für sich beanspruchen.
Der saudische Wahhabismus und der protestantische Fundamentalismus in den USA weisen zahlreiche Parallelen auf. Ein strenges Regelwerk und auf Strafe und Lohn beruhende Glaubenshaltung geben einer materiell hoch entwickelten Welt scheinbar Sinn. Tatsächlich aber etablieren sie ein System der Philister, in der sich Lüge und Wahrheit, Ehrfurcht und Missachtung der Schöpfung nicht ausschließen.
Der melancholische Despotismus in vielen arabischen Staaten lässt eine Befreiung aus eigener Kraft nicht mehr zu. Das islamische Gesetz, Scharia, dient als Hülle eines jedem Rechtsempfinden widersprechenden Unrechtssystems, dessen Stützen die Endzeitmelancholie und die Sicherung von Pfründen für treue Untertanen sind.
Der absolute Wahrheitsanspruch kann in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation überall in einen politischen Totalitarismus umschlagen. Auch wenn eine solche Radikalisierung in Demokratien wie den USA eher als in autoritär strukturierten muslimischen Gesellschaften auf Widerstand stoßen würde, ganz immun gegen eine solche Entwicklung ist keine Gesellschaft. Die Revitalisierung irrationaler Endzeitfantasien, die Restaurierung religiöser Dogmen und der Sexualmoral schaffen gerade in aufgeklärten, säkularisierten Gesellschaften wieder eine religiöse Gruppenidentität der korrekten Frommen. Der „wahre“ Glaube und das konforme moralische Empfinden können auch politische Entscheidungen herbeiführen oder zumindest beeinflussen.
Wer bewusst als Jungfrau in die Ehe geht, ist unter den Frauen moderner Gesellschaften vielleicht in der Minderheit. Die religiöse Begründung dieses Verhaltens aber legt die Fundamente zu einer Gruppenidentität jenseits von individueller Entscheidungsfreiheit. Wer verhält sich so wie ich? Was sind die Gründe? Nicht eine Analyse des Verhaltens selbst, sondern die korrekte Form in seiner rationalen Unbegründbarkeit steht an.
Das ist ein Urkonflikt zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften. Dieser Konflikt zwischen Tradition und Moderne, der im Zuge der Aufklärung einsetzte, erlebt heute eine Zuspitzung unter gänzlich anderen Bedingungen als im 19. Jahrhundert, als der Aufbruch in die Moderne eine weitgehend ungebrochene Kraft entfalten konnte. In der Spätmoderne sind die Institutionen der offenen Gesellschaft angeschlagen, sie sind angreifbarer geworden, ihre Ausstrahlung nur begrenzt, ihre Assimilationskraft erlahmt, sodass statt einer intellektuellen Auseinandersetzung um Werte ein ökonomischer und militärischer Konflikt um Ressourcen und Herrschaftsgebiete stattfindet.
Dabei sorgt in der Auseinandersetzung mit der islamischen Welt die materielle und technische Überlegenheit des Westens für ein ungleiches Kräfteverhältnis. Aus dieser Ungleichheit entsteht ein moralisches Vakuum, das den Feinden der offenen Gesellschaft und der westlichen Zivilisation willkommenen Anlass für rhetorische Anmaßungen bietet.
Ende des 19. Jahrhunderts durchlebte die jüdische Minderheit Europas eine Auflösung ihrer sozialen und ethischen Normen. Aufklärung und Assimilierung ließen ein jüdisches Bürgertum entstehen. Freud und Kafka haben die Konflikte, die diesen Transformationen innewohnten, in ihren Werken eindrucksvoll dargestellt.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts fehlt eine solch kompetente Darstellung für die islamische Kultur. Stattdessen gibt es viele ungeschriebene Briefe an den Vater. Der Grund für die Sprachlosigkeit der Söhne und ihre radikale Gewalttätigkeit, die aus dieser Sprachlosigkeit erwächst, liegt in der völlig anderen Natur der Auflösung traditioneller Werte heute.
In der islamischen Kultur Europas findet der Übergang von der traditionellen Wertegemeinschaft in die offene bürgerliche Gesellschaft nicht mehr nach den assimilatorischen Regeln des 19. Jahrhunderts statt. Kafkas innerer Terror, seine bedrückende Traumwelt und seine melancholische Persiflage der Tradition – begründet nicht durch zu viel, sondern zu wenig Tradition –, das alles drückt sich heute als ein nach außen gewendeter Zerstörungstrieb aus. Seine sadomasochistischen Fantasien sind längst nach außen gekehrte körperliche Wirklichkeit.
Die sentimentale Übergangsphase von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft, vom Glauben zur Skepsis, das halbherzige Anhängen an der Überlieferung und an ihren Riten, die man vor allem in Mitteleuropa des Fin de Siècle beobachten konnte, führt heute nicht mehr in die Verlassenheit, zur Abwesenheit Gottes und des Gesetzes, sondern zu einer reduktiven Verschärfung (Talibanisierung) der Tradition. Die Rebellion ist reaktionär. Der Terrorakt am 11. September 2001 in New York war der Ausdruck einer postkünstlerischen, sprachfernen Zeit, in der die innere Uhr des Künstlers zum Stillstand gekommen ist und sich zum Zeitzünder einer Bombe verwandelt hat, in den Händen des Attentäters.
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