piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Generation, der die Gegner fehlen

BESPASSUNG Zweifel und Verzweiflung liegen nah beieinander in „Leonce und Lena“. Eine Inszenierung im Gorki-Theater

Wir sind das Volk. Ups, nein wir sind das Publikum im Maxim Gorki Theater, das vom Spielmeister auf der Bühne als „Untertanen“ angesprochen und zu gutem Benehmen ermahnt wird. Jetzt bitte alle klatschen, gilt es doch, einen König zu empfangen. Bei hellem Saallicht schauen die Schauspieler uns ins Gesicht, und wir schauen etwas verblüfft zurück.

Leonces Problem

Einer Gameshow mit Publikumsdressur gleicht der Einstieg, den der Regisseur Jan Bosse für seine Inszenierung von Georg Büchners „Leonce und Lena“ gewählt hat. Die Bühne steht voller Torten und Schaufensterpuppen, Symbole des Luxus und Konsums, die gut zur Oberfläche eines Lebens passen, das vor Langeweile nicht weiß, wohin mit sich, und das ist Leonces Problem. Einerseits. Andererseits sind die Schaufensterpuppen ein Verweis auf den Topos des Automaten, der für Büchner und seine Zeitgenossen eine schwere Herausforderung darstellte: Wenn sich das Leben mechanisch nachahmen lässt, auf welchen Grund stützt sich dann mein Sein? Sind Gefühle mehr als Einbildungen? Wozu braucht mich die Welt? Bin ich das, der in meinem Kopf denkt?

Aber ein paar Puppen auf der Bühne genügen nicht, um jene Sphäre der existenziellen Verunsicherung herzustellen, in der sich Büchners „Lustspiel“ bewegt. Die Geschichte der beiden Königskinder erzählt ja von tiefer Verzweiflung und Lebensüberdruss, die aber, statt tonnenschwer an den Figuren zu zerren, von jedem ihrer Sätze ironisch gewendet und in die Luft geschleudert werden: ein filigranes, akrobatisches Gespinst der Selbstreflexion. Für das Flirrende der Sprache, die schnellen Wendungen der Gedanken hätte Jan Bosse, der das Stück für eine Koproduktion vom Schauspiel Köln und dem Gorki-Theater inszeniert hat, eigentlich der richtige Mann sein können. Aber diesmal gelingt ihm nur die Ausstellung des Oberflächlichen, woran Leonce, Lena und König Peter, der seine Staatsgeschäfte endlich an den Sohn übergeben will, ja unter anderem auch leiden. Ihnen aber in ihre Gedanken, eine romantisch-ironische Philosophie, die hinter jeder Behauptung neue Fragen auftauchen sieht, so hineinzufolgen, dass man am Ende ihre Gedanken geteilt hat, gelingt der Inszenierung nicht.

Den Schauspielern kann man das nicht anlasten. Mark Waschke ist ein Leonce, blond verstrupbelt und in rosiger Seide, der stets ein wenig neben sich steht. Er leidet an Unterforderung, ob in seiner Figur oder als Schauspieler, vermag man nicht mehr zu unterscheiden. Ronald Kukulies als sein Freund Valerio erlangt mit Schalk und Slapstick noch das größte Verständnis seiner schönen Sätze: „Denn, wer arbeitet, ist ein subtiler Selbstmörder und ergo ein Schuft.“ Solche Erkenntnisse sähe man gern der Moral der Gegenwart, in der ein jeder wieder täglich einen Existenzberechtigungsschein vorzuweisen hat, viel mehr um die Ohren gehauen.

Gameshow und Autorität

Vielleicht liegt die Blässe der Inszenierung daran, dass die Position der Autorität und Disziplinierung, das, wogegen Leonce, Lena, Valerio und selbst König Peter sich wehren, mit so wenig besetzt ist. Allein der Gameshowmaster ersetzt sämtliche Positionen von Gouvernante, Hofmeister, Schulmeister und Polizei. Womöglich wollte Bosse Büchner benutzen, um eine Generation zu erreichen, der die Gegner fehlen, um ihre Konturen daran zu schärfen. So aber hat das Stück selbst seine Konturen verloren.KATRIN BETTINA MÜLLER

Wieder am 10. Mai, 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater