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Archiv-Artikel

Frieren für die Freiheit

Wenn die Geschichte lehrt: Meteorologie und Revolution hängen eng zusammen. Während dem Westen der wohltemperierte Aufstand liegt, erhebt sich der Osten nur, wenn es draußen friert

von BERNHARD PÖTTER

Sie tragen Orange, und das ist gut so. Denn ohne diese warme Farbe würden wir mit den DemonstrantInnen in der Ukraine noch heftiger mitzittern, als wir es ohnehin tun. Aus Angst vor Gewalt. Aus Leidenschaft für die Sache der Gerechtigkeit. Aber vor allem wegen der Kälte.

Regen. Minusgrade. Fellmützen. Verschneite Polizeihelme. Frierende Demonstranten, die sich an brennenden Abfalltonnen oder durch Tänze bei Rockkonzerten warm halten. Wer ohne kuschelige Klamotten nach Kiew gekommen ist, bekommt Wintermäntel geliehen. Dabei hätten sie es wissen können: Revolution im Osten – das heißt frieren.

Begonnen hat alles mit der glorreichen Oktoberrevolution. Die ja eigentlich (nach unserem Kalender) im November stattfand. Der Regierungssitz wurde im Schnee gestürmt. Wo saß die Regierung? Im Winterpalais! Die Revolutionäre trugen dicke Wintermäntel. Es folgten Jahrzehnte des Kalten Kriegs. Oppositionelle wurden kaltgestellt. Der Prager Frühling wurde schockgefroren. Dann hatte das internationale Tauwetter die innere Stabilität von Väterchen Frosts Imperium ausgehöhlt.

Schon der Fall der Mauer fand im Kalten statt. Nicht nur die SED, auch die Demonstranten, Jubler und Mauerspringer mussten sich vor 15 Jahren warm anziehen. Auch bei der Samtenen Revolution in Tschechien froren sich die Aktivisten die Ohren ab. Es wurde heiß debattiert, aber kalt geschlottert. Václav Havel schrieb in seinem dicken Parka Geschichte. Ein paar hundert Kilometer nach Osten erlebte in diesem Winter 1989 das Ehepaar Ceaușescu einen letzten, frostigen Empfang seines Volkes. Es war kalt, es war dunkel, aber trotzdem gingen die Menschen und die Geheimpolizei auf die Straße. Am Ende wurde das Diktatorenpaar kaltgemacht.

1991 erkämpften sich die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit vom russischen Kühlschrank. Natürlich im Winter, als neben den Panzerketten auch die Eiszapfen klirrten. Im Oktober 2000 das gleiche Bild in Belgrad: Milošević musste weg. Natürlich zu einer Jahreszeit, in der man die Pudelmütze bis über die Ohren zieht. Vor einem Jahr zeigte das Volk Georgiens dem Präsidenten Schewardnadse die Zähne – und zwar in der Kälte mit so lautem Geklapper, dass der Präsident seinen Sessel räumte. Und nun also die Ukraine. Der Erfolg gab all den frierenden Demonstranten Recht.

Keine Regel ohne Ausnahme: Polen. Der Streik auf der Danziger Lenin-Werft, der auf kurze Sicht zur Gründung der freien Gewerkschaft Solidarność und auf lange Sicht zum Ende des Kommunismus im Land führte, begann im August. Ein Beweis, dass die These vom revolutionären Winter im Osten nicht stimmt? Keineswegs. Eher ein Beleg dafür, dass sich Polen immer schon nach Westen orientiert hat.

Denn in der westlichen Hemisphäre wird der Aufstand im Sommer geprobt. 1789 stürmte das Pariser Volk die Bastille in einer heißen Sommernacht. An einem drückend heißen 4. Juli dreizehn Jahre vorher hatten die Gründungsväter der USA zur Rebellion gegen den englischen König aufgerufen. Die Nelkenrevolution in Portugal? Fand im warmen April statt. Auch bei vielen anderen Umstürzen in der westlichen Hemisphäre galt die gleiche Regel: Egal ob Kuba, Nicaragua oder Haiti – die Zähne klapperten aus Angst. Aber nicht vor Kälte.

Was heißt das für den Osten? Sind die Menschen eher bereit, auch bei Graupelschauern für ihre Grundrechte zu kämpfen? Deuten dicke Daunenjacken auf eine Dominanz der Demokratiewilligen hin? Oder haben die Leute im Sommer einfach Besseres zu tun, als ihre Herrscher zum Teufel zu jagen?

Auf jeden Fall müssen die Autokraten im Morgenland sehr vorsichtig sein, wenn das Thermometer unter den Gefrierpunkt sinkt. Es könnte sein, dass das Volk sie sonst in die Kälte schickt. Also sollten sich Wladimir Putin in Russland und Alexander Lukaschenko in Weiß(!)russland in den nächsten Wintern warm anziehen. Wenn sie sich nicht vollständig auf die Klimaerwärmung verlassen wollen, dann sollten sie dafür sorgen, dass die Menschen gut geheizte Stuben haben. Denn Wärme macht träge. Jedenfalls im Osten.