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„Alle Begabungsreserven heben“

Keine Schulformdebatte, aber einen Wettbewerb um die beste Förderung der Schüler wünscht sich Handelskammerchef Hans-Jörg Schmidt-Trenz im taz-Interview. Absage an CDU-Senat: Keine Kammerprüfung für Berufsschulabsolventen

„In England wird eine Schule, die schlecht arbeitet, geschlossen und mit neuer Leitung wieder eröffnet“ „Es gibt an den Berufsschulen Fächer, deren Nutzen man diskutieren muss. Kein Fach ist sakrosankt“

Interview: Kaija Kutterund Eva Weikert

taz: Sie haben kürzlich im Fernsehen angezweifelt, ob die Aufteilung der Schüler nach Klasse 4 in Schubladen richtig ist. Woher plötzlich die Zweifel?

Schmidt-Trenz: Das ist gar nicht neu. Wir als Handelskammer haben uns schon vor vier Jahren intensiv mit der Entwicklung des Allgemeinbildenden Schulwesens beschäftigt. Wir haben uns damals dazu entschlossen, dass wir den Schulformstreit für eine unselige Debatte halten. Er blockiert die Fortentwicklung des Systems – mit dem seit Pisa bekannten Ergebnis. Die Anhänger des dreigliedrigen Systems fallen über die der Einheitsschule her und umgekehrt. Beide verschanzen sich in ihren Gräben.

Zweifel an der Aufteilung nach Klasse 4 haben zwingend mit der Schulstruktur zu tun.

Man könnte auch das bestehende System durchlässiger gestalten. Ansonsten: im Prinzip ja. Aber wir sagen, es blockiert das Denken, wenn wir diese Debatte fortsetzen. Die, die dies heute tun, werden Stillstand produzieren – was wir uns nicht erlauben können, denn wir müssen alle Begabungsreserven in unserem Land heben.

Weshalb eigentlich? Gibt es für all die Begabten einen Job?

Wir stehen im globalen Wettbewerb mit Ländern wie etwa Korea, die mit ihrem Bildungssystem und ihrem Know-how mittlerweile sehr wohl in der Lage sind, große Teile der industriellen Produktion zu übernehmen. Je besser wir qualifiziert sind, desto besser ist es für unsere ganze Gesellschaft und auch für jeden Einzelnen. Aber momentan fallen unsere Schüler in der Leistung ja sogar noch zurück.

Was wollen Sie tun?

Wir wollen mit einer „Stiftung Schultest“ Wettbewerb ins Leben rufen. Die sollte sämtliche Schulen regelmäßig evaluieren und die Ergebnisse veröffentlichen, damit Eltern nicht mehr im Unklaren gelassen werden, wie die Performance einer Schule ist.

Damit ist das Problem der frühen Aufteilung gelöst?

Man wird im Zuge einer Evaluierung feststellen, dass es gute und schlechte Gesamtschulen und gute und schlechte Gymnasien gibt. Dann entsteht für den Schulleiter ein Anreiz, dies zu verbessern. Jetzt ist die spannende Frage, was eine gute Schule ausmacht? Schule ist ein multidimensionales Zielsystem. Es geht nicht darum, wie viele Einser- oder Fünfer-Kandidaten eine Schule hat, sondern wie der Lernfortschritt eines Schülers ist. Wie kommt er an der Schule an und wie verlässt er sie. Es ist keine Frage des absoluten Niveaus, sondern der relativen Entwicklung des Schülers. Und da zeigen auch die Hamburger Studien, dass die Gesamtschulen wie auch die Haupt- und Realschulen sehr gut abschneiden.

Meinen Sie die LAU 11-Studie, die ergeben hat, dass an Gesamtschulen 1996 nur drei Prozent der Kinder mit Gymnasialempfehlung waren und sie sechs Jahre später 14 Prozent der Oberstufenschüler stellten?

Ganz genau. Dort zeigt sich die relative Entwicklung. Wenn man die Güte einer Schule misst, hat das auch etwas mit Schülerpopulation zu tun. Es muss gemessen werden, ob ein und welcher Lernfortschritt erfolgte.

Wie wollen Sie das vermitteln? Nach LAU 11 hieß es platt: Gymnasien sind besser.

So kommt es bei uns nicht rüber. Gerade Pisa gibt Anlass für beide Positionen. Es gibt Länder mit gegliederten Systemen, die gut sind, und Länder mit Gesamtschulsystem, die gut sind. Die Schulformdebatte bringt uns deshalb nicht weiter. Wir müssen vielmehr schauen, was die guten Pisa-Länder konkret im Unterricht machen? Welche pädagogischen Konzepte verfolgen sie? Wie wird Qualitätsmanagement betrieben? Schule ist einer der wenigen gesellschaftlichen Bereiche, in dem es nur rudimentäre Formen von Rechtfertigung gibt. Es kommt nicht darauf an, nur wie heute üblich die Schüler zu beurteilen, sondern auch die Schulen selbst.

Wenn Ihre Evaluation stets ergäbe, dass Gesamtschulen mehr Potenzial aus Schülern herausholen, könnten sie sich über Wettbewerb durchsetzen?

Durchaus. Unser Credo heißt Transparenz. Wir haben einen marktmäßigen Ansatz. Wir wissen gar nicht, welche konkrete Schule heute in Hamburg gut oder schlecht ist. Denn die, die es wissen, verraten es nicht. Sie müssen ja davon ausgehen, dass es in der Schulbehörde eine Fülle von Daten über die Qualität von Schulen gibt. Nur bewachen die Schulverwaltungen diese Informationen wie Gralshüter.

Sollten die LAU-Ergebnisse für jede Schule publik werden?

Mein Vorschlag geht viel weiter. Wir sollten wie in England die Schulen regelmäßig evaluieren und die Ergebnisse veröffentlichen. In England kann eine Schule, die schlecht arbeitet, auch geschlossen und mit neuer Leitung wieder eröffnet werden.

Den größten Handlungsbedarf gibt es bei den Hauptschulen. Nur maximal 15 Prozent der Hamburger Hauptschüler finden später eine Lehrstelle.

Wir treffen vielfach bestimmte Kompetenzen nicht mehr an, etwa Fleiß, Durchhaltevermögen und Pünktlichkeit. Diese Tugenden, die Deutschland nach dem Krieg stark gemacht haben, sind heute notleidend. Das muss im Elternhaus und in der Schule angepackt werden. Gleichzeitig meinen wir, dass es nichts bringt, 16- bis 17-Jährige mit schlechten schulischen Leistungen totzubeschulen. Die müssen in den Betrieben durch einen Praxisschock wachgerüttelt werden. Wir bieten darum Praktika als Einstiegsqualifikationen an und stellen fest, dass nach etwa einem halben Jahr der Groschen tatsächlich fällt.

Die Wirtschaft will auch mehr Praxis in den Berufsschulen. Jetzt erhält sie dort starken Einfluss. Wollen Sie nur noch betrieblich nützliche Qualifikationen vermitteln und Deutsch und Politik kippen?

Es gibt Fächer, deren Nutzen man diskutieren muss. Kein Fach ist sakrosankt. Wir haben vor, in die Lehrpläne reinzuschauen und uns die Fächer genau anzusehen. Wir haben es schließlich mit Berufsausbildung zu tun und nicht mit Allgemeinbildung. Über die Hälfte unserer Auszubildenden sind 18 Jahre oder älter. Es ist klar, dass wir Deutsch, Mathe und Sprachen ein starkes Gewicht geben. Aber Politik etwa gehört primär an Allgemeinbildene Schulen.

Viele leistungsschwächere Jugendliche holen einen Abschluss an der Berufsschule nach. Werden Sie ihnen diese zweite Chance nehmen?

Wir haben den Ehrgeiz, die duale Ausbildung für die Betriebe so attraktiv zu machen, dass mehr von ihnen ausbilden. Und dann wird es umso weniger nötig sein, Schüler in vollzeitschulischen Ausbildungsgängen zu parken. Wenn es darum geht, Schulabschlüsse nachzuholen, werden wir das unterstützen, weil Deutschland ja alle Begabungsreserven braucht. Da komme ich zu meiner Ausgangsthese zurück: Wir brauchen starke Durchlässigkeit, damit der Groschen auch später noch fallen kann, sei es auf dem zweiten Bildungsweg.

Eine Kammerprüfung würde die Berufschancen von Absolventen der vollzeitschulischen Bildungsgänge verbessern. Der Senat wünscht sie sich darum.

Die Kammerprüfung steht für die Ausbildung im dualen System. Wir können diese Prüfung nicht für etwas verleihen, das nicht dasselbe ist. Das wäre eine Entwertung des Zeugnisses des Dualen Systems. Wir sagen aber, dass der vollzeitschulische Bildungsgang eine spätere duale Ausbildung verkürzen könnte.

Lehrer und Schüler verlangen für die Berufsschulen vor allem bessere Ausstattung. Unterstützen Sie sie?

Die Betriebe werden in dem Maße, in dem ihr Einfluss auf die Berufsschulen steigt, bereit sein, ihre jeweilige Schule zu stärken. Ich erwarte darum, dass es Branchen geben wird, die finanzielle Zuwendungen an die Lehrstätten machen, wenn es um Extras geht, die aus Branchensicht essentiell sind. Wichtig ist nur, dass der Staat nicht seine Zuwendungen kürzt in der vorauseilenden Erwartung, die Wirtschaft werde das schon richten.

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