: Lenins letzter Landstrich
TRANSNISTRIEN Als Staat ist die von Moldawien abtrünnige Region Transnistrien nicht anerkannt. Doch dort gibt es einen eigenen Präsidenten und sogar eigenes Geld
■ Das Land: Die international nicht anerkannte Transnistrische Moldauische Republik hat eine halbe Million Einwohner. Hauptstadt ist Tiraspol. Bezahlt wird dort mit transnistrischen Rubeln und Kopeken. Die Währung ist außerhalb des Landes nicht anerkannt. ■ An- und Abreise: Mit dem Auto von der Ukraine oder von Rumänien aus – über Moldawien. Ein Visum ist nicht notwendig, an der Grenze können die Formalitäten jedoch ein bis drei Stunden dauern. Wer im Land übernachtet, muss sich bei der Meldebehörde OVIR registrieren lassen. ■ Transport: Benzin kostet im Land nur 0,66 bis 0,80 Euro pro Liter. Zwischen der moldawischen Hauptstadt Chișinău und Tiraspol gibt es Busverbindungen – man muss jedoch unterwegs einmal umsteigen. ■ Internet: Unter www.fischka.com sind Radiohinweise sowie zahlreiche Presseartikel und Kuriositäten zu Transnistrien zu finden. ■ Buchtipp: Von den beiden Wienern Marcell Nimführ und Andrey Smolensky ist 2007 das Buch „Hier spricht Radio PMR – Nachrichten aus Transnistrien. Ein Propagandabuch“ erschienen.
VON KNUT DIERS
Die Frau mit der Reihe Goldzähne lacht und fragt: Woher kommen Sie, aus Deutschland? Sie kann es nicht fassen, doch die Chance, Touristen zu treffen, wächst nun auch in ihrem Dorf in Transnistrien. Der Ministaat öffnet sich. Die Einreise in das Land, an dem Lenin seine Freude hätte, ist seit März vereinfacht. Man braucht keine offizielle Einladung mehr von Einheimischen und kann einfach so über die Grenze fahren – von Moldawien aus oder der Ukraine. Genau dazwischen liegt Transnistrien, ein Land, das auf kaum einer Karte verzeichnet ist, aber eine eigene Währung hat (Rubel), eine eigene Armee und vor allem eigen sein will. Lenins letzter Landstrich.
Ganz so einfach ist es leider doch nicht, hineinzukommen. Man braucht fünf Dollar und viel Geduld, bis an der Grenze alle Daten in Bücher mit Karopapier per Hand eingetragen und die vielen Formulare, verbunden mit Pelikan-Kohlepapier, gefüllt sind. Doch Nörgler sollten aufpassen: Die ein oder andere Grenzsoldatin kann Deutsch.
Das 200 Kilometer lange Land, das wohl ewig auf eine offizielle Anerkennung warten muss, ist das letzte Biotop des Sozialismus. Es hat sich 1992 von Moldawien in einem blutigen Krieg mit ein paar hundert Toten abgespalten. Moldawien hatte sich 1991 seinerseits für unabhängig von Moskau erklärt.
Doch Transnistrien, das auf einer fruchtbaren Landterrasse links des Flusses Dnister, auch Nistru genannt, erblüht, führt einen strammen Moskaukurs. Der Oberste Sowjet ist quickfidel, der 67-jährige Präsident heißt Igor Smirnow und erinnert zumindest im Gegenlicht mit seiner Halbglatze und dem Kinnbart an Lenin. Kurios aber ist das Land selbst.
Die Transnistrische Moldauische Republik oder „Republik am Dnister“ ist ein lohnendes Touristenziel für alle Ostnostalgiker oder Ländersammler vom Typ „Was glaubst du, wo ich diesen Sommer war?“ Wer dann die Alu-Kopeken mit Hammer und Sichel aus Transnistrien vorweisen kann, wird schon ein Schmunzeln ernten.
Für einen Euro gibt es 13 Rubel. Doch Vorsicht, sie lassen sich nirgends wieder zurücktauschen. Briefmarken sind auch nur zum internen Gebrauch. Wer von dort eine Postkarte nach Deutschland schicken möchte, sollte sie lieber gleich mitnehmen. Doch zurück zu dem Dorf mit der Goldgebiss-Frau.
Nicht weit von der Grenze zur Ukraine liegt die kleine Siedlung mit den bei Frühlingsgraden zu Rillen erstarrten Schlammstraßen. Gerade ist kein Durchkommen für Autos, denn quer werden von Haus zu Haus Leitungen verlegt – Wasserleitungen.
Juri, der ältere Herr mit dem verständnisvollen Lächeln, geht zum Brunnen vor seinem Haus. „14 Meter tief und reinstes Trinkwasser“, versichert er, nimmt den Blecheimer und lässt ihn in die Tiefe hinab. Keine Minute später ist er gefüllt mit kühlem Nass wieder oben. Juri schöpft sich einen Becher voll ab und sagt zu dem Gast: „Trink!“ Es sind die Klarheit des Wassers und des Blickes, die ihn trinken lassen.
„Schmeckt“, ruft der. Doch von der nächsten Woche an kommt auch in dem kleinen Dorf das Wasser aus der Leitung. Eine Epoche geht zu Ende.
Doch wer daraus Rückschlüsse auf den provisorischen Staat ziehen will, liegt falsch. Die Böden sind fruchtbar, in den Kolchosen gedeiht das Vieh. Die Stahlindustrie boomt. Textil-, Schuh- und Möbelherstellung sowie Zement- und Rüstungsproduktion laufen – wie die Spirituosenwerkstätten – voll nach Plan. Exportiert wird hauptsächlich nach Russland, das, spätestens seit die Ukraine politisch nach Westen driftet, über diesen Satellitenstaat froh zu sein scheint. Gazprom jedoch nicht, denn dort häufen sich die transnistrischen Außenstände angeblich auf eine Milliarde Euro.
Den Touristen braucht das nicht zu stören. Er tankt, so er mit dem Auto einreist, ohnehin bei Sheriff für umgerechnet 66 Cent den Liter Benzin. Der Konzern Sheriff hat in dem Landstreifen der 550.000 Menschen das Sagen. Der Fußballclub mit Champions-League-Ambitionen in der Hauptstadt Tiraspol gehört ihm samt Stadion. Eine Supermarktkette, Telekommunikationsläden, eine Cognacproduktion laufen auch unter „Sheriff“.
Gerüchte besagen, die Einkünfte flössen an Smirnows Familie, aber das halten die Transnistrier für durchsichtige Versuche, das Freilichtmuseum des Sozialismus am Schwarzen Meer anzuschwärzen. Jedenfalls sind die Dorfbewohner so erfreut über den Besuch aus der Ferne, dass sie sich gern mit ihm auf die Bänke vor dem Gartenzaun setzen und erzählen.
Aber in welcher Sprache? Amtssprachen gibt es drei, denn es sind je ein Drittel Ukrainer, Russen und Moldawier, die in dem schmalen Handtuchland wohnen. Die kräftigen Frauen mit dem Kopftuch sprechen Russisch und sind für einen spontanen Schulterschluss offen. Es ist ein lustiges Völkchen, das auch zu feiern weiß.
Der Liter Wodka kostet so viel wie der Liter Milch – etwa 50 Cent. Für 20 Euro lässt sich eine geräumige Dreizimmerwohnung mieten. 120 Euro hat irgendjemand als monatliches Durchschnittseinkommen ausgerechnet. Da liegt es auf der Hand, dass 97,1 Prozent bei der jüngsten Volksabstimmung im September 2006 für diese paradiesischen Zustände eintraten: endgültige Abspaltung von Moldawien. Sozusagen im Kleingedruckten stand aber, das Land solle sich später mal der Russischen Föderation anschließen. Was etwas verwundert: Die Russen im Land nahmen sogar in 23 Wahllokalen an der russischen Präsidentschaftswahl im März teil, bei der Dmitri Medwedjew haushoch gewann.
Die Europäische Union lässt das völlig kalt. Sie erkennt das Land, in dem der Präsident Smirnow 2001 sogar in einem Bezirk 103,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, schlicht nicht an und rechnet es weiterhin zu Moldawien. Das ist zehnmal so groß wie der Kleinstaat. Der bringt es gerade mal auf das anderthalbfache Saarland.
An der Grenze zur Ukraine sind gar deutsche Grenzschützer, die den Einheimischen mal zeigen sollen, was eine flotte und einfache Abfertigung bedeutet (und bisher gescheitert sind). Doch der Rauschgifthund muss an jedem Auto schnüffeln, und die Computer sind europaweit gut vernetzt. Denn die EU verfolgt sorgenvoll, was sich da vor ihren Grenzen für Handelspfade der Kriminellen auftun.
Die Männer im Dorf erzählen dann vom Rundfunksender PMR, der regelmäßig auch auf Deutsch sende (montags bis freitags von 17 bis 17.42 Uhr auf Kurzwelle 5.960 kHz). Darin lässt sich alles Flüssige und Überflüssige über Lenins Niemandsland erfahren. Doch dass in der großen Stadt Rabnita im Norden die Metzgerin stolz Schweineohren auf ihren Thekentisch zum Verkauf stellt und stolz dabei lächelt, muss der Tourist selbst erleben.
Auch die Frau im Minirock an der Haltestelle für überalterte Linienbusse gehört dazu wie der schwarze BMW mit zwei jungen Kerlen darin, die Sonnenbrillen gut finden und in passablem Englisch mit Touristen Geschäfte machen möchten.
Bleibt noch der Volkspolizist im Lada mit seiner Radarpistole zu erwähnen. Er stellt sich am Tiefpunkt einer Gefällstrecke auf, an der nur 50 km/h erlaubt sind und versucht mit wilden Messungen wenigstens sein Volkseinkommen um ein paar Rubel aufzubessern.