: Selbstzweifelloser Raum
Hier werden Autoren und Vortragende eins mit ihrem Schreiben und ihren Texten und lassen auch das Allerprivateste politisch werden: In diesen Tagen feiert die „Reformbühne Heim & Welt“ ihr zehnjähriges Jubiläum. Ein historischer Exkurs in die Berliner Lesebühnenkultur aus gegebenem Anlass
von HELMUT HÖGE
1988 kehrten die Autoren Dr. Seltsam und Wiglaf Droste der taz enttäuscht den Rücken – und machten sich selbstständig. Fürderhin wollten sie ihre Texte dem Publikum nur noch mündlich mitteilen. Der „Frühschoppen“ in der Kalkscheune und das „Benno-Ohnesorg-Theater“ in der Volksbühne gingen daraus hervor – und daraus mendelte sich wiederum die „Reformbühne Heim & Welt“ heraus. Sie ist die Pionierin unter den Lesebühnen in Kneipen, ihr Einfluss reicht mittlerweile bis nach Köln, Hamburg und Jena.
So, wie es inzwischen an jedem Tag im Jahr irgendwo ein Filmfestival gibt, kann man nun auch an jedem Tag der Woche irgendeine Vorlesebühne in Berlin besuchen. Sie haben so fantasievolle Namen wie „Mittwochsfazit“, „Trash-Talk“ oder „Die Surfpoeten“ – und werden von „Aktivisten“ getragen, die teilweise davon leben und früher oder später ihre Texte zu Büchern verarbeiten. Neben diesen quasi von unten organisierten Auftrittsmöglichkeiten gibt es inzwischen auch solche, die auf Initiative von oben – etwa durch Kneipenwirte und Kulturzentren – entstanden. Letzteren schwebt so etwas wie ein „Best of“ vor, was wiederum Literaturagenten aus nah und fern anziehen soll. Eine Agentur hat inzwischen sogar eine eigene Lesebühne installiert, auf der die besten Lesebühnenautoren mit ihrem ersten oder zweiten Buch auftreten, um danach auf der Goetheinstitutsschiene eine Weile zu reisen. Einige der Lesenbühnenveteranen haben sich daneben noch als Singles ausgekoppelt: Dr. Seltsam mit dem „Club Existentialiste“, Falko Hennig mit „Radio Hochsee“ und Wladimir Kaminer mit „Kaminer liest“. Einige andere koppelten sich einfach ab und begannen wie Bov Bjerg in Leipzig anständig Literatur zu studieren; oder hörten umgekehrt ganz auf, Geschriebenes vorzulesen, und erzählen stattdessen irgendetwas, so wie Michael Stein, der sich Artauds Credo zu Eigen gemacht hat: „Alles Geschriebene ist Sauerei!“
Insgesamt ist das Programmschema der Vorlesebühnen überall gleich: Es besteht in der Regel aus einem Moderator, mehreren Vorlesern, darunter ein oder zwei Gästen, und einem oder mehreren Musikern und DJs. Bei der Reformbühne singen alle zusammen am Schluss einen alten westdeutschen Schlager; an- und abmoderiert wird die Show dort meist von Jakob Hein, den man angeblich kaum von der Bühne runterkriegt.
Bei den alten Vorlesebühnen, die gern auch mal das Veranstaltungslokal wechseln, gibt es einen Hang zu Entertainment. Er wird durch die Berlintouristen im Publikum forciert, die sich anschließend bei dem Fanartikelshop an der Kasse auch noch mit CDs, Büchern, T-Shirts und Flaschenöffnern eindecken. Wie der Chefredakteur des Rolling Stone einmal bemerkte, begann der Niedergang dieser Veranstaltungen mit dem Verkauf des ersten bedruckten T-Shirts – das bezog sich jedoch auf Rockkonzerte. Den Höhepunkt erlebte diese Musik laut Paul McCartney, als die Beatles anfingen, nicht mehr ihre eigenen Liebeleien und Trennungskalamitäten zu thematisieren, sondern die einer dritten Person: „She loves you!“, wobei sie noch ein derart obszönes „Yeah, yeah, yeah“ anfügten, dass etwa Walter Ulbricht sofort öffentlich dagegen Stellung nahm. Er war aber nur einer von Millionen.
Einige neuere Lesebühnen liebäugeln inzwischen mit einer gewissen Repolitisierung ihrer Programme: Bert Papenfuß’ „Sibirische Zelle“, der „Terroristen-Talk“ im „Baiz“, Thomas Ebermanns „Politbüro“ sowie Dr. Seltsams nach Kreuzberg zurückgekehrte Sonntags-„Frühschau“ im „Max und Moritz“. Als Zentralorgan der Alltagsforschung von mindestens 13 Vorlesebühnen behauptet sich nach wie vor der „Salbader“, der seit einigen Jahren sogar Honorare zahlt.
All das profitiert natürlich vom Hauptstadt-Quatschhype, aber ebenso auch umgekehrt. Alle Vorleser zusammen arbeiten in den Kneipen quasi an einem „Berlin-Roman“, und Examensarbeiten und haufenweise Detailstudien sind über die Lesebühnen natürlich auch in Arbeit. Da steht dann etwas über die mangelnde Trinkfestigkeit von Judith Hermann drin oder so.
Ein Humorwächter der Titanic kritisierte kürzlich speziell das Reformbühnen-Programm, wobei er mit einem Lob anhub: „Die Richtung boomt und Konkurrenz hebt das Niveau, und ähnlich wie im Falle der gleichfalls expandierenden Poetry-Slam-Bewegung bemerke ich eine deutliche Qualitätssteigerung […] Kein Wunder: Die praktisch überall verbreitete Slammerei und die berlinexklusive Lesebühnenmode haben sich verschwistert, immer öfter trifft man Stars der Berliner Szene über Land auf den Slams. Logisch, daß der trainierte Vortragsstil genuiner Slammer vermehrt auch auf Lesebühnen Einzug hält […] Einwandfreie Präsentation ist im Kommen, auch was die von den Lesebühnen herausgegebenen Print-Veröffentlichungen angeht.“
Der Titanic-Autor meint, dass avantgardistische Experimente, wie sie dem legendären Ruf der Lesebühnen zufolge deren Charakter prägen sollen, „keine Rolle mehr spielen“. Er begrüßt diese Entwicklung sogar, „bloß, daß sie mir längst in ein Gegenextrem umgeschlagen zu sein scheint: in jene Neue Anständigkeit und auf frech gegelte Harmlosigkeit, wie sie von unseren einheimischen Stand-up-Comedians kultiviert werden. Diese ergehen sich ja, die notorischen Unappetitlichkeiten zum Lieblingsthema Sex einmal ausgenommen, praktisch durchweg in geschmäcklerischer Tüttel- und Krittelei betreffend Sofakissen, Küchengeräte und Frisuren. Politisches ist unüblich und findet sich auch auf Lesebühnen nur mehr ausnahmsweise.“
Man muss sich das vorstellen, sagt er: „Führungsfiguren der Szene, die sich sichtlich als solche wahrnehmen und dies mit teils eindrucksvoller Haartracht, teils noch eindrucksvolleren Pseudonymen dokumentieren (Spider, Gauner, Hans Duschke oder Dr. Seltsam) – sie räsonieren übers Geschirrspülen und Putzen, über den Euro und übers Onanieren; kurzum, das thematische Spektrum einer Frauenillustrierten ist’s, das mittlerweile einen Szene-Leseabend füllt. Mag seine sprachliche Bandbreite etwas großzügiger bemessen sein als die einer mittleren Allegra-Ausgabe, fällt der Spielraum der auf Lesebühnen geschilderten Lebensverhältnisse aus. Diesbezüglich hat die Bewegung längst ihre Klassik entwickelt und ein spezielles Lebensgefühl etabliert: Der typische Lesebühnen-Ich-Erzähler ist Single ohne geregelte Brotarbeit und hat sich mit diesen Konditionen eingerichtet – echte Anfechtungen, gleich ob finanzieller oder emotionaler Natur, erreichen ihn nicht. Erotik wird noch nicht einmal in Form von Affären, allenfalls von Anflügen erlebt. Als Prototyp firmiert der nette Studienabbrecher von nebenan, womit sich literarische und reale Existenz der Autoren so ziemlich deckungsgleich zeigen.“
Dieses lose Netzwerk prästabilisierter Ich-AGs, die der Titanic-Autor hier als „Sofakissen-Avantgarde“ kritisiert, ist jedoch gleichzeitig die Stärke der Reformbühne, insofern die dort Auftretenden eins mit ihrem Schreiben und den Texten zu sein beanspruchen, in der Annahme, dass auch und gerade das Allerprivateste politisch sei. Mit der lockeren Organisation ihres Programms gelang es ihnen darüber hinaus nicht nur, aus einer fixen Idee eine kleine lokale Bewegung zu machen, sondern gleichzeitig auch eine Art Kaderschmiede für den Literaturbetrieb – selbst organisiert und fast unabhängig von Staatsknete.
Durch das kneipenkompatible Programmschema hat man es zudem geschafft, die Hochachtung vor dem geschriebenen Wort etwas zu mildern, ohne jedoch die Autoreneitelkeit auszurotten – dafür jedoch leider fast jeden Anflug Kuhlbrodt’scher Selbstzweifel. Insofern haben wir es hier wirklich noch mit einer „gesprochenen Zeitung“ zu tun, einem Genre, das schon im revolutionären Russland erfolgreich war und dann noch einmal im Polen der späten Sechzigerjahre – beide Male aus Papiermangel. Jetzt könnte man hingegen von einer zunehmenden „Zeitungskrise“ sprechen – das wäre dann so zu verstehen, dass alle Printmedien sich allegraisieren – und man in seinem Stammlokal nicht mehr nach einem Intelligenzblatt greift und darin liest, sondern sich dort gleich ungedruckte Feuilletons vorlesen lässt.
Die größte Schülerzeitung der Welt, die taz, hat die Zeichen der Zeit bereits erkannt und druckt seit einer Woche einfach die Gewinnertexte eines Vorlesewettbewerbs für 14- bis 18-Jährige ab. Ja, der Tag ist nicht fern, da wird die taz alle Redakteure in ihre neu gegründeten Vorlesebühnen – „Rudi-Dutschke-Theater“ – outsourcen und in der Kochstraße nur noch das Soli-Versandhaus „taz-shop“ betreiben.
Am Donnerstag kommender Woche feiert die „Reformbühne Heim & Welt“ ihr zehnjähriges Jubiläum ab 20 Uhr im Großen Haus der Volksbühne in Berlin