Eigenwillige Untergänge

Seefahrt ist Not. Seekrankheit auch. Christoph Marthaler hat sich Texte zur See vorgenommen. Seine Inszenierung „Seemannslieder/Hoffnung auf Segen“ gastierte am Wochenende in Berlin

Die Witwen der Seemänner trauern im Loop,und wer angelt, hat ein rostiges Fahrrad am Haken

VON CRISTINA NORD

„Ich grüße dich, alter Ozean“, sagt die große Blonde. Ihre Beine sind so lang, dass sie zu beschreiben jeder Satz zu kurz wäre. Ihre blauen Lider und ihre roten Lippen doppeln die Farben der Bluse und der Strumpfhosen unter den Hotpants. Wenn sie mit dem Drehkreuz turnt, sieht es aus, als hielte sie einen Tanzpartner im Arm. Dann ist Hafenhure ein viel zu grobes Wort für sie. „Ich ertrinke im stinkenden Meer“, sagt später der große Blonde, als er in der Tiefe der Bühne untergeht.

Alt also ist dieser Ozean und stinkend, das Bühnenschiff ein müder Pott, randvoll mit still gelegter Zeit und Gespenstern; die See ein Grab für Fischer und Matrosen. Am fünften Tag, heißt es, schuf Gott das Meeresungeheuer und das Getier und sagte: „Seid fruchtbar und mehret euch.“ Die Menschen kamen einen Tag später, nun hängen sie in den Seilen, seekrank an der Reling, matt an der Bar. Bis eines ihrer Glieder zu zucken beginnt, eine Hüfte sich ausstellt und wieder eindreht, ein kleiner Finger sich rundet. Dann wird ein Tanz daraus; anderswo macht sich ein Haarteil selbständig, wandert vom Kopf in die Hand und von dort zum Mund. Pumps laufen ihrer Trägerin davon und die den Schuhen hinterher. Sie, eine Bardame im weißen Kostümchen, verknäult sich auf dem Bühnenboden, die Beine hängen über ihren Schultern, die Arme hinter ihrem Hintern.

Christoph Marthaler hat sich Texte zur See vorgenommen. Sie stammen von Herman Heijermans, Lautréamont, Joseph Conrad, Fernando Pessoa und anderen Autoren und werden mit Kirchenliedern, Schlagern, Shantys und Wagner-Arien gemischt. Für das Theater ZT Hollandia in Kooperation mit dem Publiekstheater Gent ist diese Collage entstanden; sie heißt „Seemannslieder/Hoffnung auf Segen“ und gastierte am Wochenende im Berliner Theater Hau 1. Sechs der zehn Schauspieler gehören dem holländischen Ensemble an, drei kommen aus der Schweiz, einer aus Schottland. Wer argwöhnte, dass Marthalers eigenwilliger Umgang mit Gesten und Wiederholungen, mit Leerlauf, Stimme und Rhythmus nur mit einem eingespielten Team funktioniere, wird von der ersten Szene an vom Gegenteil überzeugt.

Der Grundton in diesem Bühnenschiff (eingerichtet haben es Anna Viebrock, Duri Bischoff und Frieda Schneider) ist das Moll. Alles ist vergeblich – die Gesten, das Warten, die Sehnsucht. Die Witwen der Seemänner trauern im Loop, und wer angelt, hat ein rostiges Fahrrad am Haken. Die Bardame singt für einen, der längst fort ist: „Lass mich nicht allein.“ Und wenn alle Männer auf sie zutaumeln, dann antwortet sie auf deren „I love you“ mit „Ja“, „Ja“, „Ja“ – mit der Nüchternheit einer Krankenschwester. Vom Aufbruch des Schiffes, dessen Segel stolz im Wind anschwillen, findet sich bei Marthaler nur eine ferne Ahnung: in den geblähten Wangen eben jener Bardame, wenn sie ein Seemannslied pfeift. Eine kleine holländische Kulturgeschichte möchte die Inszenierung vorstellen und ist doch – nicht zuletzt dank der internationalen Textauswahl – viel mehr als das. Spätestens wenn ein improvisiertes Radio eine Springflut meldet und im Rauschen der Ätherwellen die Namen holländischer Ortschaften ertönen, denkt man an die Küsten im Süden Asiens.

Doch bei Marthaler ist die Rettung, ist der Segen ganz nah: in den filigran inszenierten Bewegungen, in der großen Kunst eines Gesanges, der jede Silbe so lange dehnt, bis dem Sänger der Atem ausgeht, im raffinierten Zusammenspiel von Verweigerung und Aktion. Ein Schlager wird mit 45 statt mit 33 Umdrehungen abgespielt. Marthaler und die Darsteller pflegen ihre Rhythmus- und Bewegungsstörungen, sie hegen den Slapstick und das fröhliche Scheitern desjenigen, der vom Hocker kippt. Am Ende, der Applaus ist schon verbrandet, tritt noch einmal die Bardame auf die Bühne. „Wir haben geschlossen“, hält sie ihren letzten Gästen, den von der Inszenierung noch ganz trunkenen Zuschauern, entgegen, während sie die Reling wischt.