: Kein Futter für Leseratten
KURT-TUCHOLSKY-BIBLIOTHEK Ehrenamtliche Mitarbeit, das schien die Rettung einer kleinen Bücherei in Pankow vor den Sparbeschlüssen des Bezirks. Bis dem Bibliotheksverbund Bedenken wegen des Datenschutzes kamen
VON CHRISTINA FELSCHEN
Harry Potter landet auf Pippi Langstrumpf, Tom Sawyer setzt sich obendrauf und die Kleine Hexe schwebt über allen. Grit Nitzsche türmt Bücher übereinander, legt sie der Leseratte vorsichtig in den Arm und öffnet ihr beim Herausbalancieren die Tür. Luise ist ganz allein in die Kurt-Tucholsky-Bibliothek in Prenzlauer Berg gekommen. Ihr Glück, dass sie gleich nebenan wohnt, denn alle anderen Bibliotheken sind für die Grundschülerin unerreichbar.
Doch dieses Glück könnte von kurzer Dauer sein. Rund 50 Berliner Bibliotheken wurden in den letzten fünf Jahren geschlossen. Seit letzter Woche stehen auch die 130 Jahre alte Kiezbibliothek in Prenzlauer Berg sowie die Thomas-Dehler-Bibliothek in Tempelhof auf der roten Liste. Denn die Konferenz der Berliner Öffentlichen Bibliotheken (VÖBB) hat am Mittwoch beschlossen, die beiden ehrenamtlich geführten Bibliotheken aus dem Verbund auszuschließen.
Datenbank umrüsten
Nur wenn sie es schaffen würden, ihre Datenbank bis heute so umzurüsten, dass sie ausschließlich die Daten der eigenen Kunden einsehen können, dürften sie bleiben. Der Leiter der Stadtbibliothek Mitte, Stefan Rogge, hat im Januar in einer Fachzeitschrift kritisiert, ehrenamtliche Mitarbeit im Bibliotheksverbund gefährde den Datenschutz. Denn damit habe „quasi jeder Zugriff auf alle Daten der NutzerInnen aller Öffentlichen Bibliotheken Berlins“. Bei diesen Worten wippt der Pressesprecher von Pro Kiez, Peter Venus, wütend auf seinem Stuhl: „Das ist doch bloß ein Vorwand, um uns loszuwerden! Die wissen genau, dass so eine Umstellung viel mehr Zeit braucht.“
In der Krise spitzt sich der Bibliotheken-Krimi zu. Im Laufe dieser Woche wollen die VÖBB-Mitglieder per E-Mail über die Zukunft der beiden Kiezbüchereien abstimmen: ein Verband mit 100 Bibliotheken und sechs Millionen Medien gegen zwei Bücherzwerge mit zusammen knapp 50.000 Medien. Die große Koalition gegen die kleinen VÖBB-Mitglieder hat ganz unterschiedliche Gründe: Die großen Bibliotheken fühlen sich durch die günstigeren Konkurrenten bedroht und der Senat spart, wo es geht – und bei Bibliotheken geht es immer.
Schon einmal, von Januar bis Juni 2008, hat der Bezirk Pankow die Kurt-Tucholsky-Bibliothek geschlossen. Nur die Entrüstung und das Engagement der sonst so braven Bötzow-Bürger konnten die Bibliothek noch einmal am Leben erhalten. Mit 5.000 Unterschriften und einer Hausbesetzung rang der Bürgerverein Pro Kiez dem Bezirk einen Kompromiss ab: Die Bibliothek verlor ihre Bibliothekarin, durfte aber ehrenamtlich weitergeführt werden.
Über 20 freiwillige Helfer verwalten hier die Mitgliedsdaten und sortieren die Bücher ein: Lou Salomé wandert neben Anna Seghers ins Erwachsenenregal, Kurt Tucholsky in die Auslage und das Spiel in die Kinderecke. Mit einer Bücherkiste in der Hand dreht Klaudia Schulte routiniert ihre Runden, vorbei an schmökernden Teenagern und krabbelnden Kleinkindern. Bis vor wenigen Jahren ist sie für die gleiche Arbeit in einer Berliner Bücherei noch bezahlt worden: Die 55-Jährige ist gelernte Bibliothekarin und arbeitslos. Noch kommen jeden Monat 1.400 Besucher in das rote Backsteingebäude in der Nähe des Volksparks Friedrichshain und leihen rund 2.400 Medien aus.
„Ohne den VÖBB stirbt die Bibliothek“, seufzt Venus. „Eine reine Privatbibliothek macht gar keinen Sinn.“ Ein gemeinsames Logo, der Internetauftritt, ein gemeinsamer Katalog – die Kiezbibliothek braucht den Verbund. „Noch geben uns die Qualitätskontrollen des VÖBB Glaubwürdigkeit, noch werden neue Leser auf uns aufmerksam, noch geben Studenten bei uns Bücher ab, die sie woanders entliehen haben“, sagt Nitzsche, die 14 Stunden die Woche ehrenamtlich die Bücherei koordiniert.
Mit Kreuz und Trauerflor
Mit Kreuz und Trauerflor gedenkt der Berufsverband Information Bibliothek (BIB) auf der Seite www.bibliothekssterben.de den fast 500 Bibliotheken in ganz Deutschland, die in den letzten fünf Jahren schließen mussten oder akut von Schließung bedroht sind. Der Berliner Landesvorsitzenden des BIB, Nicole Weigand, liegt diese Nostalgie fern; sie hat die zentralistische Rhetorik des Berliner Senats bereits übernommen. Statt von „Bibliothekssterben“ spricht sie von „strukturiertem Zusammenschrumpfenlassen“. Den Wunsch nach Kiezbibliotheken kann die Angestellte der Berliner Staatsbibliothek nicht verstehen: „Das ist ein typisches Berliner Phänomen: jedem Bäuerchen sein Feldchen.“ Weigand plädiert für Flurbereinigung: „Starke Bibliotheken müssen überlebensfähig bleiben.“
Die Bibliothekare fürchten den Preisverfall durch ehrenamtliche Arbeit. Denn die Berliner Bezirke erhalten pro ausgeliehenem Buch einen Einheitsbetrag vom Senat, der sich aus den durchschnittlichen Kosten für eine Ausleihe in Berlin ergibt: derzeit gut einen Euro. Doch die tatsächlichen Kosten variieren erheblich, je nachdem ob eine Bibliothek Personalkosten berechnen muss oder nicht. Pankow verdiene jedes Jahr rund 100.000 Euro durch den ehrenamtlichen Bürgerverein, rechnet Rogge vor. Das ist den Aktiven durchaus bewusst. Als der Verein 2008 den Pankower Ehrenamtspreis erhielt, knirschte Venus mit den Zähnen: Dies solle „nicht als Beispiel verstanden werden, Aufgaben des Staates kostengünstig in ehrenamtliche Strukturen zu übertragen“. Der Verein sei bloß eine Übergangslösung, bis wieder eine hauptamtliche Kraft bezahlt werde. Das scheint jetzt aber unwahrscheinlicher denn je.