: Das Beben nach dem Fall der Mauer
MAUERFALL Mit dem Rad auf dem Todesstreifen. Erinnerungen, Begegnungen und Events – vor 20 Jahren fiel der „antifaschistische Schutzwall“
■ Infos Veranstaltungen zum Thema „20 Jahre Mauerfall“ unter www.mauerfall09.de oder bei der Hotline (0 30) 4 43 12 33 30
■ Austellungen „Friedliche Revolution 1989/90“: Open-Air-Ausstellung auf dem Berliner Alexanderplatz (täglich 24 Stunden, bis 14. 11.); „Wir waren so frei … Momentaufnahmen 1989/90“: Ausstellung im Berliner Museum für Film und Fernsehen, Potsdamer Straße 2 (bis 9. 11.); „Schauplätze – 20 Jahre Berlin im Wandel“, Ausstellungen an wechselnden Berliner Orten (bis 9. 11.)
■ Feste „Fest der Freiheit“ am Brandenburger Tor, 7. bis 9. 11.
■ Touren „Geteilte Stadt – die Berliner Mauer 1961–1989“, Videobustour alle 2 Wochen um 13.30 Uhr, Start: Unter den Linden 40 (Tel. (0 30) 44 02 44 50, www.videobustour.de); „Mauer-Tour“, geführte Radtour, täglich 10 Uhr sowie Mo, Mi, Sa 15 Uhr (Berlin on Bike, Kulturbrauerei Hof 4, Knaackstr. 4, Tel. (0 30) 43 73 99 99, www.berlinonbike.de); „Mauer-Tour“, Radtour ab dem Potsdamer S-Bahnhof Griebnitzsee nach Anmeldung (Tel. (03 31) 7 48 00 57, www.potsdam-per-pedales.de)
■ Dokumentationszentrum Berliner Mauer: Bernauer Straße 111, Berlin-Mitte, Di bis So 10 bis 18 Uhr (März bis November: 10 bis 17 Uhr, öffentliche Führungen: So 15 Uhr (Tel. (0 30) 4 64 10 30, www.berliner-mauer-dokumentationszentrum.de
■ Gedenkstätten Günter Litfin e. V., Kieler Straße 2 in Berlin-Mitte, März bis Oktober täglich 12 bis 17 Uhr (www.berlin.de/mauergedenken). „Die Spuren des Kalten Krieges in Potsdam“, Gruppenführung, Potsdam Tourismus Service, Tel. (03 31) 2 75 58 50, www.potsdamtourismus.de)
VON GÜNTER ERMLICH
Es war zwischen 23.15 und 23.30 Uhr. Da ging die Schranke hoch. 5.000 Leute stürmten los, ich natürlich mit.“ Zeitzeuge Andreas Falge, 52, erinnert sich noch an jede Einzelheit jener schneidend kalten Nacht des 9. November 1989, als die Mauer fiel. An einem sonnigen Morgen im Mai stehen wir mit unseren Leihrädern am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße, der heute die Bezirke Wedding und Pankow verbindet. Falge zeigt uns seinen DDR-Ausweis, den er in einer Ringmappe aufbewahrt. „Der wurde damals von den Grenzern mitten übers Passbild gestempelt.“ Wir lesen „Ungültig“! Damit wurde Falge aus der DDR faktisch ausgebürgert. Als er in jener Nacht am Ende der Bösebrücke einen Polizisten sieht, weiß er: Ich bin im Wedding, im Westen! Wahnsinn! Heute arbeitet Falge, zur Wendezeit Kinotechniker, als Stadtführer für den Veranstalter „Berlin on Bike“.
Während der „Mauertour“ auf dem ehemaligen Todesstreifen erzählt er mit viel Lokalkolorit „Geschichten von früher“. Von seiner Stasiakte, in der er als „renitent, aber ungefährlich“ eingestuft wurde; von Stasi-Mannen, die observierten, wenn er Brigitte, seine Exfreundin, die im Mauerschatten wohnte, besuchte; vom Prenzlauer Berg mit der Gethsemane- und der Zionskirche, zur Vorwendezeit ein Hort der oppositionellen Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung, heute Schickimickiviertel der Bionade-Bohème. „In diesem Bezirk leben nur noch 19 Prozent der Bevölkerung von vor 1989“, sagt der Stadtführer.
Martialische Infrastruktur
„Wo stand eigentlich die Mauer?“, fragen heutzutage nicht nur Berlintouristen. Denn von dem einst 155 Kilometern langen „antifaschistischen Schutzwall“ (DDR-Jargon) um West-Berlin, davon 43,1 Kilometer zwischen Ost- und West-Berlin, ist nicht mehr viel zu sehen. Ein paar Narben sind geblieben: die denkmalgeschützte East-Side-Gallery zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, mit 1,3 Kilometern das längste zusammenhängende Mauerrelikt; das 200 Meter lange, von „Mauerspechten“ ramponierte Reststück an der Niederkirchnerstraße zwischen Berliner Abgeordnetenhaus und dem Ausstellungsgelände „Topographie des Terrors“; das Mauerareal in der Bernauer Straße, der einzige Abschnitt in Berlin, wo die komplette martialische Infrastruktur der Grenzanlagen – Grenzmauer, Todesstreifen, Postenweg, Peitschenlampen und Hinterlandmauer – erhalten blieb. Hier entstand 1999 die „Gedenkstätte Berliner Mauer“ mit einem Dokumentationszentrum zur deutsch-deutschen Teilung. Und die „Geschichtsmeile Berliner Mauer“ erhellt mit 29 Infotafeln die Exgrenze und markiert mit einer Doppelreihe Pflastersteine den damaligen innerstädtischen Mauerverlauf.
In diesem Jubel- und Gedenkjahr „20 Jahre Mauerfall“ bieten Berlin und Potsdam touristische Mauer-Programme. Zum Beispiel die Videobustour der Veranstaltungsagentur Zeit-Reisen mit Film-, Bild- und Tondokumenten. Wir Teilnehmer können an den Originalschauplätzen 28 Jahre Mauergeschichte im Zeitraffer nacherleben. Wir hören Ulbricht sächseln und lügen „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“, sehen kurz darauf eine Filmsequenz mit dem O-Ton „Seit ein Uhr nachts bohren die Presslufthämmer auf der Ebertstraße am Brandenburger Tor“, machen vor dem Reichstag den optischen Gestern-Heute-Vergleich: Während auf dem Busmonitor Bilder einer Brachfläche mit der einsamen ehemaligen Schweizer Botschaft flimmern, sehen wir durch die Fensterscheibe auf das belebte Regierungsviertel mit dem Kanzleramt-Koloss.
Am Ende der Tour hören wir den „Maueröffner“ Günter Schabowski vor der Weltpresse stammeln: „Das [die neue Reiseregelung, die Red.] tritt … nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“. Wir schauen dabei auf eine nichtssagende Glasfront in der Mohrenstraße, hinter der damals diese Pressekonferenz stattfand.
136 Menschen starben zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer. Günter Litfin war der erste Mauertote. Am 24. August 1961, elf Tage nach Mauerbau, wurde er auf der Flucht im Humboldthafen erschossen. Mit Jürgen Litfin, seinem Bruder, steigen wir auf den heute von Hochhäusern umrahmten ehemaligen DDR-Wachturm an der Kieler Straße. Mit Spendengeldern hat der 69-Jährige den verwahrlosten Wachturm gerettet, von Grund auf restauriert und zur „Gedenkstätte Günter Litfin“ umgebaut, einer Dauerausstellung, die „an alle Opfer der SED-Diktatur“ erinnern soll.
Jürgen Litfin zeigt auf den Mannschaftsraum mit den Schießscharten, „auf jeder Seite doppelt“. Er berlinert sich in Rage, geißelt die „Apfelbacke Egon Krenz“ („Es gab keinen Schießbefehl!“), zeigt auf einen vergilbten Artikel aus dem Neuen Deutschland, in dem sein Bruder als „Verbrecher“ tituliert wird und schimpft auf die „Dumpfbacken von Politikern“, die auch diesen Wachturm noch abreißen lassen wollten. Dabei verdiene Berlin doch „Milliarden mit dem Mauertourismus“.
„Stasi raus, Stasi raus!“ skandiert es gespenstisch über den unwirtlichen Alexanderplatz. Minuten später hören wir: „Freiheit, Freiheit!“ Tonschleifen der Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“, die 24 Stunden lang geöffnet ist. „Wir wollen Geschichten vom gesellschaftlichen Umsturz 1989/90 erzählen“, stellt Projektleiter Tom Sello von der Robert-Havemann-Gesellschaft klar. Dazu gehöre die Vorgeschichte der Wende, die Umweltbewegung und die Jugendkulturen, die kirchliche Opposition, aber auch die wichtige Rolle des Westfernsehen. 700 Bilder, von sparsamen Texten begleitet, illustrieren den Geschichtsparcours.
Insel vor der Insel
Wir radeln mit Robert Freimark vom Veranstalter „Potsdam per Pedales“ zum Griebnitzsee. Am Südufer stehen sechs Mauersegmente, davor ein Kreuz und eine Gedenktafel mit den Namen von 17 Maueropfern, die das „Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte im Land Brandenburg“ für diesem Grenzbereich zusammengetragen hat. Einer der Opfer ist Günter Wiedenhöft, der in der Nacht des 6. Dezember 1962 beim Fluchtversuch starb. Der 20-Jährige muss auf dem zugefrorenen See eingebrochen und ertrunken sein, nachweislich wurde er zwar von DDR-Grenzern beschossen, aber seine Leiche im folgenden Frühjahr ohne Schussverletzung geborgen. In der Umgebung des Griebnitzsees zeigt sich der Irrsinn des Grenzverlaufs, das Zickzack der Mauerführung. Wo war der „Osten“, wo der Westen? Steinstücken war eine westliche Exklave im Osten. „Steinstücken war im Kalten Krieg eingemauert wie West-Berlin“, erklärt uns Freimark, „eine Insel vor der Insel West-Berlin“ mit US-Militärposten.
Wo heute ein Hubschrauber den Kindern als Klettergerüst dient, landeten damals Hubschrauber mit US-Soldaten. Die 70 Bewohner von Steinstücken mussten aus der Luft versorgt werden. Erst nach dem Viermächteabkommen 1971 und einem Gebietsaustausch wurde Steinstücken mit einer beidseitig ummauerten Korridorstraße an West-Berlin gekoppelt – und wurde zum exotischen Touristenziel. „Mit Eintrittsgeldern, Souvenirs und Currywürsten hätten wir problemlos unser Leben finanzieren können“, zitiert Robert Freimark den SPD-Bundestagsabgeordneten Klaus Uwe Benneter, der noch heute Mitglied im „Bürgerverein Kleintierzucht & Naturfreunde Steinstücken 80“ ist. Wir radeln zurück zum Griebnitzsee, durch den einst die deutsch-deutsche Grenze verlief. In der Kolonie Potsdam-Babelsberg zieren restaurierte Villen das Seeufer. „Seit dem 18. April ist hier wieder Sperrgebiet“, sagt Robert Freimark mit Blick auf die gründerzeitliche Truman-Villa, in der jetzt die Friedrich-Naumann-Stiftung („Für die Freiheit“) residiert. Wie bitte? Ja, sagt Freimark, ein heißer Krieg sei um den See-Zugang entbrannt. Der Uferweg war zu Mauerzeiten Postenweg der Grenzer, seit der Wende öffentlicher Durchgang. Jetzt ließen ihn etwa zehn Anrainer, deren Grundstücke bis ans Wasser reichen, mit Zäunen absperren. Kurz zuvor hatte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) den Bebauungsplan der Stadt Potsdam für Uferweg und Uferpark wegen formaler und inhaltlicher Fehler verworfen. Trotz des Urteils stellte das OVG den öffentlichen Uferweg keineswegs grundsätzlich infrage. „Das öffentliche Interesse ist hochwertig“, sagte OVG-Präsident Jürgen Kipp. „Dort stand die Mauer, das ist deutsche Geschichte.“ Die Mauer bebt nach.