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Archiv-Artikel

Ein Plädoyer für den Betrug

Wer sich jemals um ein Visum zur Ausreise aus der DDR bemüht hat, den sollte die Aufregung um die Visa-Affäre eigentlich kalt lassen: Der gute Schleuser war hier Held und Retter, keinesfalls Krimineller

VON NICK REIMER

„Ich hatte nach meiner Rückkehr aus Armenien erhebliche Schwierigkeiten, mich in Ostberlin zu akklimatisieren. Ich verglich die gepflegten Straßen Jerewans mit den verkommenen Berlins. Ich erinnerte mich an die Toleranz und Kultur der Armenier und sah um mich verbohrte und verkniffene Gesichter. Ich hörte Genossen predigen und Betrunkene grölen, und ich dachte: Dieses Volk hat keine Selbstachtung.“

aus: Hans Noll, „Der Abschied“

Hans Noll hatte es gut. Vielleicht lag das daran, dass er Sohn des Parteischriftstellers Dieter Noll ist. Hans Noll jedenfalls bekam ein Visum. Allerdings ist ihm das gar nicht gut bekommen: Als er das Leben in der großen Welt beschnuppert hatte, blieb ihm nur noch Abscheu für das eigene Leben in seinem kleinen Land. Dieser Abscheu schüttelte ihn so sehr, dass er es verlassen musste.

20 Jahre ist das her – dennoch hochaktuell. „Kein Mensch ist illegal“ gilt allenfalls für Menschen aus den Schengen-Ländern. Für den Rest ist an der Grenze Schluss.

Fälschen und übertölpeln

Von Alexander Humboldt ist der Satz „Reisen bildet“ überliefert. Ebenso wie die Tatsache, dass Reisen ein Privileg ist. Zu Humboldts Zeiten war dieses Privileg Leuten mit dickem Geldbeutel vorbehalten, heute jenen mit „Visum“. Es geht hier nicht um Hühnerklau oder Fahrraddiebstahl, schrieb Jürgen Busche zur „Fischer-Affäre“ in der taz: Hier geht es um Schleuserkriminalität. Aus einem anderen Blickwinkel ließe sich auch formulieren: Schleuser sind Kämpfer für mehr Freiheit, Schleuser bieten ein Bildungsprogramm, öffnen Perspektiven, sind die wahren Helden dieser Welt.

Egal ob für Armenien, Portugal oder Grönland – in der DDR war es bekanntlich schwierig, ein Visum zu bekommen. Man konnte natürlich versuchen, Anträge zu schreiben oder stundenlang vor irgendeiner Botschaft anzustehen. Genutzt hat das aber nichts. Wirklich helfen konnte nur: der Schleuser. Etwa der, der ihm Taschkent empfahl. Trotz – oder wegen – des Zopfs im Kinnbart wirkte er sympathisch, sein Know-how war lückenlos belegt, der Preis stimmte, und das Risiko schien abschätzbar. Es kam auf einen Versuch an.

Das Schleusertum in der DDR bestand aus zwei Teilen. Teil eins: Aus dem so genannten Sozialversicherungsbuch trennte der Schleuser die letzte Seite heraus. „Notizen“ stand im Kopf, in der Mitte prangte aber eine Art Wasserzeichen. „Visum“ schrieb der Schleuser drüber, trug die Lebensdaten ein. Dazu verfasste er ein Begleitschreiben: „Der Student Liebwein ist auf Exkursion zu den Errungenschaften der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Wir bitten, ihm jedwede Hilfe zuteil werden zu lassen.“ Unterschrift. Stempel.

Alle offiziellen Dokumente des Sowjetreichs waren „petschiert“, denn in manchen Dingen war die KPdSU sehr konservativ: Petschaften sind runde Stempel, die im slawischen Sprachraum schon im 3. Jahrhundert benutzt wurden. Zum Glück benutzte die Innere Mission der DDR runde Stempel. Und natürlich verfügte der Schleuser über beste Verbindungen.

Teil zwei war schwieriger: Nun galt es, die Staatsorgane der DDR zu übertölpeln. Dem Schleuser half ein so genanntes zweitägiges Transitvisum für das große Sowjetreich. Beantragen konnte das, wer etwa von Polen nach Rumänien reisen wollte – durch die UdSSR. Unterwegs musste man dann nur „zufällig“ in den falschen Zug einsteigen.

„Visafrei bis Hawaii!“

Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan – Liebwein kam auf diese Weise ganz schön rum. Er kam aber auch wieder nach Hause. „Visafrei bis Hawaii“ – die tiefe Sehnsucht dieser Losung des Wendeherbstes kann nicht verstehen, wer allenfalls zum Besuch der kongolesischen Tiefebene ein Visum braucht. Zwar ist die Rolle der DDR-Schleuser beim Untergang der Sowjetunion bis heute wissenschaftlich nicht hinreichend untersucht. Dass sie beim Fall der Mauer aber einen wesentlichen Beitrag leisteten, ist unumstritten.

„Revolution!“, rief die Bewegung in Orange, als sie den ukrainischen Despoten Janukowitsch zum Teufel jagte. Zuvor hatten Schleuser geschickt die gelockerten Visumbestimmungen für die Schengen-Länder genutzt. Gibt es einen Zusammenhang? Man muss nur prüfen, wie viele Visa in die Westukraine, wie viele in die Ostukraine vergeben wurden – die meisten orange Revolutionäre wohnen im Westen.

Zwangsprostitution, Menschenhandel, dickes Geschäft – natürlich gibt es jede Menge Schleuser, die dem Ruf der Branche schaden. Das aber ist überall so. Das Gute daran: Irgendwann werden die schwarzen Schafe ertappt. Schleuser wie Minister.