: Die Güte des Fabrikanten Jiang
AUS JIAXING GEORG BLUME
Sein schlaksiger Gang stammt aus der Zeit, als er jeden Tag durchs Reisfeld stakste. Jiang Jianfu, 51 Jahre alt, Gründer und Haupteigentümer der Xinyang- Pulloverfabrik, war vor 17 Jahren noch ein einfacher Reisbauer – heute ist er Euro-Millionär.
In seinem grauen Büroanzug wirkt Jiang wie ein Bauer auf dem Weg zur Kirche. Dennoch verkörpert er die Epochenwende zu dem, was Ökonomen heute den „volksrepublikanischen Kapitalismus“ nennen – im Vergleich zu seiner angelsächsischen oder rheinischen Ausprägung. Gemeint ist eine neue Form des Wirtschaftens, die in ihren Grundzügen den Gesetzen der freien Marktwirtschaft folgt, doch wie Jiangs Pulloverproduktion konfuzianische und sozialistische Traditionen Chinas keineswegs vernachlässigt.
Die Pulloverfabrik steht in Jiaxing, einer Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern südlich von Schanghai. Die Fabrik zeigt Chinas neue soziale Möglichkeiten. Aus westlicher Sicht ist das kleine Textilunternehmen mit seiner weißblauen Fabrikhalle ein typischer Ausbeutungsbetrieb. Die 260 Angestellten der Firma, die alle einen dunkelblauen Anzug wie zur Mao-Zeit tragen, doch mit modernen deutschen Maschinen der Firma Stoll arbeiten, erhalten nach Angaben des Unternehmens einen Durchschnittslohn von umgerechnet 100 Euro im Monat. Da die Löhne der Manager bis 1.000 Euro reichen, liegen die meisten Arbeitergehälter deutlich unter 100 Euro.
Dennoch sind die Beschäftigten, von ihnen ein Großteil Frauen, zufrieden. Im Januar haben sie einen Jahresbonus erhalten und Anfang des Monats Lebensmittel: jeder je eine Kiste Fisch, Speiseöl, Äpfel, Birnen und Mandarinen für die Neujahrsfeiertage. Dann brauchten sie neun Tage nicht in die Fabrik zu kommen. Manche, die aus Sichuan und anderen entfernten Provinzen stammen, durften sogar für über zwei Wochen in die Heimat verreisen. Die Leute aus der Nachbarprovinz Jiangsu sammelte ein von der Firma gemieteter Reisebus ein. Wer aber keine Familie hat oder in Jiaxing blieb, weil er Geld sparen musste, wurde vom Chef am Neujahrstag zum Essen eingeladen. Denn Jiang machte das schließlich nicht arm.
Jiang ist ein Prototyp des neuen chinesischen Kapitalisten. Wie die meisten von ihnen fing er mit nichts an. Durch eine symbolische Summe kamen er und ein paar andere Bauern 1987 in den Besitz einer bankrotten Kunstfaserfabrik. Von allen Beteiligten glaubte Jiang am meisten an seine Chance. 1995 erhielt er einen Kredit über umgerechnet 1,8 Millionen Euro. Er bürgte, das machte ihn zum Chef. Er stellte von Kunstfaser- auf Pulloverproduktion um. Er kaufte die deutschen Maschinen. Er wählte jeden seiner Angestellten in langen persönlichen Gesprächen aus.
Später führte er sein Unternehmen an die Börse und vermachte einen bedeutenden Aktienanteil verdienten Mitarbeitern. 60 Prozent behielt er, heute besitzen seine Aktien einen Wert von umgerechnet zehn Millionen Euro. Pro Jahr lässt er derzeit 600.000 Pullover herstellen, 90 Prozent davon exportiert er nach Frankreich, England, Japan und in die USA. Für seine besten Angestellten hat er neben der Fabrik ein rosa gestrichenes Apartmenthaus bauen lassen. Einige der Wohnungen hat er verschenkt, andere hält er für Jungakademiker bereit, die er in seine Firma locken will. Er wirtschaftet immer noch wie ein Bauer, der, wenn er zu viel hat, die Nachbarn beschenkt. „Edle Männer, denen es an Güte mangelt, gibt es wohl“, sprach Meister Konfuzius. „Niedriggesinnte, die an Güte reich sind, gab es nie.“ An solche einfachen, jedem Chinesen vertrauten Grundsätze versucht sich Jiang zu halten. Treue und Loyalität sind ihm wichtig, die Firma ist für ihn auch Familie. Er hat noch nie einen Arbeiter entlassen.
Privatbetriebe wie der von Jiang erwirtschaften heute nach westlichen Berechnungen 60 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Sie sorgten maßgeblich dafür, dass in China im letzten Jahr neun Millionen neue Arbeitsplätze entstanden – fast doppelt so viel, wie Deutschland Arbeitslose zählt.
In der Boomtown Jiaxing, die aufgrund ihrer geografischen Lage in der Nähe Schanghais und einer guten Infrastruktur von vielen Investoren bevorzugt wird, beruhen sogar 80 Prozent der Wirtschaftsleistung auf Privatunternehmen, liegt das Wirtschaftswachstum bei 17 Prozent. Umso erstaunlicher ist, dass man Unternehmertypen, die ihre Eigenleistung verherrlichen, hier nicht findet. So viel sozialistisches Denken ist geblieben: Jeder begreift sich als Teil eines großen Ganzen, das wichtiger ist als der Einzelne. Zwar ist der Profit oberstes Gesetz und der Wille zu harter Arbeit wie überall in China allgegenwärtig, doch gepaart mit dem Wissen, die eigenen Ziele nur in der Gemeinschaft erreichen zu können. Dabei wird das Kollektiv nicht mehr angebetet wie früher unter Mao Tsetung, sondern dient nun dem Unternehmen.
Der Bürgermeister von Jiaxing, ein ehemaliger Stahlwerksleiter in Zeiten der Planwirtschaft, hat eine Formel für den Aufschwung: „In China“, sagt Chen Derong, ein kleiner, konzentrierter Kommunist, „gibt es den Marxismus für die Politik, die Marktwirtschaft für die Wirtschaft und den Konfuzianismus für das Zwischenmenschliche.“
Chen trägt eine enge Lederjacke über einem grauen Designer-Pulli. Er spricht frei und ohne Schnörkel. Kein Mitarbeiter, wie im Ein-Parteien-Staat sonst üblich, führt Protokoll. Er sagt, er habe kein Privatleben. Seine Frau lebt in der Provinzhauptstadt Hangzhou, seine Tochter studiert in England. Er arbeitet jeden Tag von sieben bis Mitternacht. Dafür habe er keine Zweifel an dem, was er tue: Er müsse Investoren anwerben, um Steuern zu verdienen, die er für den Bau von Schulen und Sozialwohnungen benötige. Das meine er mit Marxismus für die Politik. Natürlich sei er nach wie vor Kommunist. Auch wenn für ihn heute die Marktwirtschaft das von allen Wirtschaftssystemen am wenigsten mangelhafte sei, um Wohlstand zu schaffen und ihn innerhalb der Gesellschaft umzuverteilen.
Für einen Lokalpolitiker wie Chen gehört viel Mut zu so einer Aussage. Kommunisten in Peking würden vielleicht privat zustimmen, aber öffentlich nicht so reden. Denn die Marktwirtschaft existiert in der Parteisprache nicht als solche, sondern nur mit dem Zusatz „sozialistisch“, und auch Konfuzius ist immer noch tabu. Daran hat sich auch seit dem Führungswechsel an der KP-Spitze vor zwei Jahren zum neuen Partei- und Staatschef Hu Jintao nichts verändert. Überall sprechen die Menschen auch heute noch mit zwei Zungen: Privat herrscht Gedankenfreiheit, erlaubt man sich auch Kritik an den Herrschenden. Öffentlich aber bleibt alles beim alten sozialistischen Jubelvokabular. Für den jungen Pekinger Filmemacher Ning Hao, einen Außenseitertyp, der sein Geld mit Videoclips verdient, ist das ein unerträglicher Zustand: „Wir befinden uns im Kapitalismus, alle Menschen wollen reich werden, Gier und Konkurrenz nehmen überhand. Aber niemand redet offen darüber, weil wir offiziell im Sozialismus chinesischer Prägung leben“, sagt Ning.
Das sozialistische Lügengebäude der Partei aber hat mit der sozialen Realität in Jiaxing ebenso wenig zu tun wie der nackte, von Gier geprägte Kapitalismus, den Kritiker wie Ning unterstellen. Bürgermeister Chen redet nicht nur, er macht, was er sagt. Überall in Jiaxing werden heute neue Schulen und Apartmenthäuser für einen städtischen Mittelstand gebaut. Nicht einmal die sichuanischen Wanderarbeiter unter den halbfertigen Autobahnbrücken der Stadt gehen leer aus. Es sind rauhe Gesichter, die sich in der Mittagspause an einem Feuer zwischen zwei Betonplatten versammelt haben. Auch sie loben Jiaxing – weil jeder von ihnen eine legale Aufenthaltsgenehmigung und eine städtische Unterbringung habe, weil die Löhne rechtzeitig ausgezahlt und sie nicht um ihre Arbeit betrogen würden.
Jiaxing ist nicht überall in China. Andere Städte und Provinzen sind sehr viel ärmer. Aber Jiaxing ist keine Sonderwirtschaftszone und auch noch nicht besonders reich. Vor zehn Jahren war es noch ganz arm. Nun mögen bald Probleme wie Immobilienspekulation und Überinvestitionen drohen. Davon ist heute in jedem Analystenbericht aus China die Rede. Dennoch, die chinesische Wirtschaft wächst und wächst.