: Man muss sich nur strecken
Die Erfolgsgeschichte der Hamburger Band Kettcar beginnt mit einer Labelgründung aus Verlegenheit. Ihr „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ ist eines der besten deutschsprachigen Alben seit langem
VON THOMAS WINKLER
Es weht ein rauer Wind in Hamburg. Schwarze Wolken hängen tief, Sturmwarnung im Radio, es beginnt zu regnen. Kettcar haben zum Fußballturnier geladen. Bekannte und Unterstützer aus Presse, Radio und dem Musikgeschäft kicken in einer kleinen Halle am Hafen. Die Brötchen sind selbst geschmiert und die immer noch sehr bunten Hafenstraßenhäuser nur einen Pflastersteinwurf entfernt. Der Einzige von Kettcar, der wirklich Fußball spielen kann, ist Bassist Reimer Bustorff. Sänger Marcus Wiebusch dagegen stakst eher steif über den Platz, aber wenn der große, etwas massige Mann ins Rollen kommt, ist er nur schwer aufzuhalten. So trotzen Kettcar ihren drei Gegnern mit aufopferungsvollem Kampf jeweils ein Unentschieden ab und scheiden ungeschlagen in der Vorrunde aus. Es weht ein rauer Wind in Hamburg und er scheint immer von vorne zu kommen. Man kann versuchen, sich in ihn hineinzulegen. Dann trägt er einen. Man muss sich nur strecken.
Das Fußballturnier dient nicht nur der Pflege von blauen Flecken und geschäftlichen Kontakten, sondern soll auch so etwas sein wie „der Kick-off für die Band“, sagt Thees Uhlmann, Fahrer zwischen Hotel und Halle, Sänger von Tomte, Freund von Kettcar, ein Drittel des gemeinsamen Labels Grand Hotel van Cleef und ein kaum verhohlenes Marktschreiertalent, „Kettcar sollen merken, dass es jetzt so richtig losgeht“.
Los geht es mit „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ (Grand Hotel van Cleef/ Indigo), der nun schon 17. Veröffentlichung von Grand Hotel van Cleef, dem zweiten Album von Kettcar und dem besten deutschsprachigen seit einer ganzen Zeit. Die Platte wird, dazu muss man kein Prophet sein, wenn sie kommenden Montag erscheint, in die Charts einsteigen und ein weiteres Kapitel hinzufügen zur eindrucksvollen Erfolgsgeschichte eines kleinen Plattenlabels, das begonnen hatte als Notgeburt, weil niemand eine Platte der Band Kettcar veröffentlichen wollte, die aus den regional bekannten Punkbands Rantanplan und But Alive hervorgegangen war. Vier Jahre später verkauft man regelmäßig im fünfstelligen Bereich, hat gar einige Arbeitsplätze geschaffen, ist Stammgast auf den Titelbildern der bundesdeutschen Musikpresse geworden und gern gesehen im Feuilleton, lizensiert amerikanische Bands, fördert den deutschen Nachwuchs, spielt die Backing-Band für Jürgen Vogel in einem Film, der im Spätsommer in die Kinos kommen soll, und landete zuletzt gar in den Klatschspalten, seit Tomte-Keyboarder Max Schröder mit Heike Makatsch liiert ist.
Wie aber erklärt sich dieser Erfolg? Mit „Identifikation“, sagt Marcus Wiebusch, in seinen Texten „finden sich die Leute wieder“. Was wohl heißen soll: im Gegensatz zum Radioeinerlei sowieso, aber auch zum Diskurspop der Hamburger Kollegen. Tatsächlich haben die Texte, die Marcus Wiebusch schreibt, zwar ihre parolenhaften Momente, aber vor allem beschreiben sie diesen „Flickenteppich, der Leben heißt“, wie ihn Wiebusch in „Einer“ nennt, einem der beiden, so der Verfasser, ausdrücklich politischen Songs des Albums. Der andere ist „Deiche“ und eröffnet nicht umsonst die Platte. Hier beschreibt Wiebusch hellsichtig den Zustand, in dem sich dieses Land momentan befindet zwischen Egoismus und Nationalismus, zwischen dem Einkauf bei Aldi und Protesten gegen Hartz IV: „Du weißt, der Kuchen ist verteilt, du spürst, die Krümel werden knapp.“
„Wir sind eine politische Band“, sagt Wiebusch. Und tatsächlich bekommt selbst der alte Monty-Python-Gag „Jeder bitte nur ein Kreuz!“ in einem Text von Wiebusch eine neue demokratische Implikation. So sind Kettcar politisch, weil zwar nicht alles politisch ist, aber doch der Alltag, wie Wiebusch ihn in „Die Ausfahrt zum Haus deiner Eltern“ beschreibt: „Erst in die Hölle und dann zu Ikea“. Auch wenn ihr Erfolg auf kommerziell wesentlich niedrigerem Niveau stattfindet als der von Wir sind Helden, decken sich Herangehensweise und Publikum doch weitgehend. Und damit rückt man Wiebusch bestenfalls musikalisch, aber nicht inhaltlich in eine Ecke, in der es ihm nicht behagen würde. Wir sind Helden sind für ihn „eine gute und wahrhaftige Band“, die zu denen gehört, die vor allem von den Major-Plattenfirmen zu verantwortende „Entwertung von Musik“ noch durchbrechen – so wie eben Kettcar. Die Zukunft der Musikindustrie, so Wiebusch, sind „solche kleinzelligen Einheiten“ wie Grand Hotel van Cleef, wenn nicht bald „ein bescheuerter Klingelton mehr wert sein soll als ein Song“.
Sein Label, das er zusammen mit Bustorff und Uhlmann betreibt, soll auch mit dem drohenden Erfolg nicht unkontrolliert weiterwachsen, denn es sind die Majors gewesen, „die Öltanker, die die Katastrophe verursacht haben“. Wenn Wir sind Helden, „diese Arschgeigen“, meint Wiebusch freundlich, nach dem Auslaufen ihres aktuellen Vertrages „nicht ihre eigene Plattenfirma gründen, dann schlage ich sie zusammen“. Er will mit Band und Label Role Model sein, will vormachen: „Du musst diesen Scheißvertrag nicht unterschreiben.“ Stattdessen lieber die eigene Firma gründen, die Kontrolle behalten, „so wie das Xavier Naidoo, Die Toten Hosen und Die Ärzte machen“. Wenn die Erfolgreichsten sich selbstständig machen, sind das Millionen von Platten, an denen die Industrie nichts mehr verdient. Die Produktionsmittel übernehmen, so viel Sozialismus darf auch in der Kleinfamilie Grand Hotel van Cleef noch sein.
Politisch waren allerdings auch schon und besonders ausdrücklich But Alive, und noch in der Nacht vor dem Fußballturnier haben Kettcar tapfer ein Benefizkonzert in Hildesheim gespielt. So sehr viel hat sich seit den Neunzigern, seit But-Alive-Tagen, als man die Tonträgerproduktion bereits streng unabhängig betrieb, aber gar nicht einmal verändert, sondern eher logisch weiterentwickelt: Wiebuschs Verse sind sorgsamer gedrechselt, der forsche Punkrock ist zu sorgsam konstruierter Rockmusik mutiert und man leistet sich auch mal eine solide Ballade wie „Nacht“, das „einzige Liebeslied“, so Wiebusch, „das ich je geschrieben habe“. Vor allem aber sind Wiebusch und seine Mitstreiter älter geworden, haben ihr jugendliches Ungestüm eingetauscht gegen den Zweifel und die Fragen des Erwachsenendaseins, und Wiebusch ist vor wenigen Wochen Vater geworden.
So also wurden Kettcar komplett. Und waren gereift genug, eine Platte aufzunehmen, die einem beweist, dass man mit Rockmusik älter werden kann – als Macher und als Hörer. Dass man Rocksongs schreiben kann, in denen ein Thema wie „Verantwortung übernehmen“ verhandelt wird, in denen Beziehungen beschrieben werden, die aus Karrieregründen zu Ende gehen, und schließlich von diesem Gefühl die Rede sein wird, so der mittlerweile 36-jährige Wiebusch, „das jeder kennt, das Gefühl, sich von seinen Träumen verabschieden zu müssen“.
Der letzte Satz von „Handyfeuerzeug gratis dazu“, einem Song über die Untiefen und Absurditäten des modernen Kapitalismus, wie er sich im Musikgeschäft manifestiert, ist: „Wir kommen, um Danke zu sagen.“ Wiebusch will das nicht verstanden wissen als ironische Entgegnung auf Tocotronics mittlerweile sprichwörtlich gewordenes „Wir sind gekommen, um uns zu beschweren“, aber man sollte, man darf es sicher mal so interpretieren. Denn: Das ist endgültig keine Hamburger Schule mehr, keine Jungs, die anderen Jungs Botschaften und Insiderscherze zwischen den Zeilen schicken, sondern erwachsene Männer mit genug Problemen und Leben halt, um damit ganze Alben zu füllen, auch wenn Wiebusch „genervt von dieser Authentizitätsabfrage, mit der ich immer wieder konfrontiert werde“, behauptet, sich „die Geschichten alle ausgedacht“ zu haben und ein Leben zu führen, dass „zu uninteressant“ sei, „als dass es Stoff für elf Songs hergeben würde“.
Tatsächlich wird bei Kettcar vor dem Auftritt Bier getrunken oder Spezi. Marcus’ Bruder Lars spielt die Keyboards und seit dem 1. Februar hat er die familieneigene Fischräucherei von Großvater Wiebusch übernommen. Grand Hotel van Cleef mag nicht Familienersatz sein, aber es gibt sich alle Mühe und ernährt mittlerweile mit allen Bands, drei Betreibern und anderthalb Angestellten ungefähr 15 bis 20 Menschen. Vor allem aber, sagt Gitarrist Erik Langer bei einer Pizza kurz vor dem Konzert, „erfüllen sich momentan gerade immer mehr von meinen Träumen“. Langer hat Grund weiter zu träumen, denn dieses zweite Album ist sogar noch besser als das grandiose Debüt „Du und wie viel von deinen Freunden“ von 2002, weil Kettcar eine noch bessere Rockband geworden sind. Sie haben gelernt, dass weniger manchmal mehr ist, dass die immer noch unheimlich energischen Gitarren nicht notgedrungen kleistern müssen, sondern dass Lücken gelassen werden können, dass es Atem- und Denkpausen geben kann.
Diese Rockband gibt am Abend des Fußballturniers ein Konzert in einem rappelvollen Hamburger Club namens Knust, ein Heimspiel, eine rauschende Home-Coming-Party, zu der auch Heike Makatsch erscheint. Alte Songs werden frenetisch gefeiert, neue freudig begrüßt, und als der Bass kaputt gespielt ist und bevor Marcus Wiebusch die Bühne verlässt, empfiehlt er einer glücklichen, dampfenden Menge den Erwerb des neuen Albums seiner Band, weil es „wirklich gut“ sei. Das wirkt seltsamerweise nicht wie unvermeidbare Eigenwerbung, sondern wie ein gut gemeinter, ehrlicher Ratschlag unter Freunden.
Sechs Wochen später. Kein Wind weht, aber Schnee liegt. Kettcar spielen in Potsdam. Im Vorprogramm der altgediente Bernd Begemann, der nun auch bei Grand Hotel van Cleef untergekommen ist. Als sich das Publikum alte Songs wünscht, die er heute nicht spielen will, meint Begemann: „Alles tolle Lieder, für die würden die Sportfreunde Stiller ihren linken Arm geben.“ Und, möchte man zurück auf die Bühne rufen, den rechten für die neuen Songs von Kettcar gleich hinterher. Eine lange Autofahrt später zu Hause, wo im Regal ganz langweilig alphabetisch Kettcar direkt neben Alicia Keys stehen. Wer da mehr Soul hat, das mag einfach zu beantworten sein. Aber wer die fünfmal Fußball spielen gesehen hat, der weiß, wer mehr Seele hat.
Kettcar live: 30. 3. Essen, 31. 3. Köln, 1. 4. Saarbrücken, 2. 4. Mannheim, 3. 4. München, 4. 4. Dresden, 6. 4. Berlin, 7. 4. Hamburg