: Überraschung im Libanon
Die „Intifada der Unabhängigkeit“ ist in einer günstigen Lage: Niemand stellt sich ihr entgegen. Neuwahlen und Reformen sind die nächsten Schritte
Die Libanesen haben in ihrer jüngsten Geschichte stets die übrige Welt überrascht. Mitte der 70er-Jahre schockierte der Bürgerkrieg mit seiner Brutalität die internationale Öffentlichkeit, die den Libanon als „Schweiz des Orients“ betrachtete. Die Hauptstadt Beirut – damals eine Oase der Offenheit und der Toleranz in der arabischen Welt und ein Treffpunkt von Orient und Okzident – wurde durch Religionskriege materiell und geistig verwüstet. Das Land galt im letzten Jahrzehnt trotz der Befriedung als politisch apathisch und zugleich unberechenbar. Die Syrer saßen fest im Sattel und fungierten vor aller Welt als Garanten des inneren Friedens im Libanon.
Jetzt erlebt die Welt die nächste Überraschung. Die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten al-Hariri löste keinen Bürgerkrieg aus, sondern eine beispiellose demokratische Bewegung. Von den einstigen Schauplätzen der Kämpfe im Beiruter Zentrum donnern nicht Kanonen, sondern es erklingen Rufe nach Freiheit und Unabhängigkeit. Die von der Opposition geführte „Intifada der Unabhängigkeit“ konnte sogar die prosyrische Regierung stürzen. Und dies alles in einer Region, in der Gewalt und Terror die Politik beherrschen.
Eine Demokratie bahnt sich ihren Weg, ohne die Hilfe der US-Panzer in Anspruch zu nehmen. Warum ist es dazu gekommen, was hat diese Bewegung für eine Perspektive und was sind ihre Konsequenzen für die ganze nahöstliche Region?
Nach außen erwecken die Proteste der Libanesen den falschen Schein, als ob sie ausschließlich antisyrisch wären. Sie sind aber hauptsächlich nicht gegen das syrische Volk gerichtet, sondern gegen die Regierung, die seit dreißig Jahren diktatorisch das ganze politische Leben bestimmt. Der Abzug der Syrer aus dem Libanon sollte aufgrund des Attaif-Abkommens von 1989, das den Bürgerkrieg beendete, innerhalb von zwei Jahren geschehen. Stattdessen machte Syrien seine militärische Präsenz im Libanon von der Lösung des Nahostkonfliktes abhängig.
Besonders seit dem israelischen Abzug aus dem Süden des Landes im Mai 2000 ist der Libanon fest in die Hand der libanesisch-syrischen Geheimdienste geraten. Die Machthaber in Damaskus waren zuletzt so arrogant, dass sie selbst ihre libanesischen Verbündeten als bloße Befehlsempfänger behandelten. Die hoch gepriesene Bruderschaft zwischen dem Libanon und Syrien hat sich als ein Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten entpuppt.
Das syrische Regime setzt seine Präsenz im Libanon als Karte in den Verhandlungen mit Israel und den USA über seine Rolle im Irak und über die Rückgabe der von Israel seit 1967 besetzten Golanhöhen ein. Diese Politik erreichte ihren Höhepunkt, als im vorigen Jahr das Mandat des syrienfreundlichen libanesischen Präsidenten Lahoud verlängert und dazu die libanesische Verfassung gebrochen wurde, die nur eine Amtsperiode des Staatschefs vorsieht.
Die syrische Rechnung ging aber nicht auf, als der einflussreiche Drusenführer Dschumblatt zur offenen Opposition überging. Es formierte sich allmählich eine überkonfessionelle, breite demokratische und nationale Bewegung, die das Ende der syrischen Besatzung verlangt. Der Wechsel des früheren Ministerpräsidenten al-Hariri zur Opposition machte diese Proteste für das syrische Regime und seine libanesischen Satelliten noch bedrohlicher. Seine Ermordung – die unabhängig von der Identität ihrer Hintermänner auf die Zerschlagung der Opposition abzielte – löste ungeahnte Massenproteste aus, nachdem schon im vorigen Herbst der oppositionelle Politiker Marwan Hamade bei einem Attentat schwer verletzt worden war.
Jetzt haben die Syrer den Rückhalt unter der Mehrheit der Libanesen verloren. Selbst die Hisbollah und die schiitische Amal-Bewegung, die wichtigsten politischen Stützen der Syrer im Libanon, sind bisher nicht bereit gewesen, gegenüber der Opposition auf totale Konfrontation zu gehen. Die Unzufriedenheit mit der syrischen Präsenz erreicht inzwischen alle Schichten der libanesischen Bevölkerung. Deshalb haben die Forderungen nach Abzug der syrischen Armee aus dem Libanon einen emanzipatorischen Charakter. Sie bringen den Willen der Libanesen nach Selbstbestimmung und Freiheit zum Ausdruck.
Die Befürchtung, die Beendigung der syrischen Herrschaft im Libanon könne eine unmittelbare Rückkehr des Bürgerkrieges zur Folge haben, ist nicht begründet. Ein politisches Vakuum ist so gut wie ausgeschlossen, da alle politischen Kräfte des Landes das Abkommen von Attaif verwirklichen wollen, das die Macht zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften verteilt. Ein solcher politischer Konsens existierte nicht, als der Bürgerkrieg 1975 ausbrach.
Außerdem betonen die Vertreter aller politischen Kräfte trotz ihrer politischen Spaltung ihr Festhalten an der friedlichen Lösung ihrer Konflikte. Dies schließt nicht aus, dass bestimmte Gruppierungen versuchen, durch Terror und Gewalt die Opposition von ihrem friedlichen Kurs abzubringen. Die Erfolgschancen solcher Kräfte bleiben niedrig, weil sie, zumindest gegenwärtig, weder regionale noch internationale Helfer haben. Die arabische Welt befindet sich in einem Zustand der Lähmung, sodass kein Staat ein Interesse an der Destabilisierung des Libanon haben könnte.
Selbstverständlich beunruhigen die politischen Erfolge der Libanesen die arabischen Despoten. Sie befinden sich jedoch innenpolitisch in der Defensive. Die erfolgreiche Durchführung der Wahlen in Irak und Palästina zeigt, dass die Bush-Administration beginnt, die alten Bündnisse der USA mit arabischen Diktaturen zu überdenken. Ob dies zu einer Unterstützung der Demokratisierung der Region führen wird, bleibt abzuwarten.
Die internationalen Bedingungen für einen syrischen Abzug aus dem Libanon sind gegenwärtig sehr günstig. Die Verabschiedung der Resolution 1559 durch den UN-Sicherheitsrat im vorigen Jahr zeigt, dass sich Frankreich und die USA einig sind, die libanesische Souveränität wieder herzustellen. Das syrische Regime hingegen hat so gut wie keine Möglichkeiten, zu manövrieren. Seine Truppen müssen den Libanon verlassen. Dadurch wird der Weg für die Bildung einer Übergangsregierung frei, die im Mai freie Parlamentswahlen durchführen kann.
Der „Intifada der Unabhängigkeit“ zum Durchbruch zu verhelfen, verlangt das Festhalten an der gewaltlosen Form der Proteste und die Öffnung zu allen Demokratiebewegungen in der Region. Darüber hinaus müssen die Libanesen ihr politisches System reformieren, damit der Staat die Bürger integriert, statt sie nach ihrer religiösen Zugehörigkeit zu spalten. Denn der Abzug der Syrer ist der Beginn und nicht das Ende der Demokratisierung des Libanon. ABDEL HUSSEINI