: Wacht auf, Konsumkritiker!
EINKAUFSWELT Sind Waren wirklich böse? Und Konsumenten wirklich dumm? Eine aktuelle Kritik der Warenästhetik sollte alte Slogans hinter sich lassen
■ Das Original: Die „Kritik der Warenästhetik“, zunächst ein Radiovortrag, wurde 1970 abgedruckt im Kursbuch Nr. 201. Dann erweiterte Wolfgang Fritz Haug seine Überlegungen zu einem Buch, das 1971 bei Suhrkamp erschien und bald umfassend diskutiert wurde.
■ Die Neuausgabe: Kürzlich erschien dies Buch in erweiterter und aktualisierter Form. Der Titel lautet jetzt korrekt: „Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Der Band in der Edition Suhrkamp hat 350 Seiten und kostet 14 €.
■ Unser Autor Wolfgang Ullrich schrieb das Buch „Haben wollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006, 224 Seiten, 17,90 €
VON WOLFGANG ULLRICH
Als Wolfgang Fritz Haugs berühmte Studie „Kritik der Warenästhetik“ 1971 erstmals erschien, war das ein großes intellektuelles Ereignis. Immerhin erweiterte Haug die Ästhetik, eine klassische Disziplin der Philosophie, um einen wichtigen – und in den vergangenen Jahrzehnten noch wichtiger gewordenen – Bereich. Kaum eine Analyse von Werbung, Verpackung und Produktdesign kam seither ohne Rekurs auf sein Buch aus. Doch wurden damit oft zugleich seine (marxistische) Terminologie sowie seine Art der Argumentation übernommen, weshalb im deutschsprachigen Raum bis heute ein konsumkritischer Diskurs vorherrscht.
Haugs Buch steht in einer Tradition, die bis zu Platon zurückreicht. Seit den alten Griechen ist es üblich, gegen das, was man zu kritisieren hat, in doppelter Weise zu argumentieren, will man doch sicher sein, alle möglichen Einwände abwehren zu können. So wird das Kritisierte einerseits als schwach, mangelhaft, ontologisch nicht auf der Höhe dargestellt, andererseits aber als gefährlich und manipulativ identifiziert. In Platons „Politeia“ waren es die Erzeugnisse der Dichter und Maler, die als „dreifach entfernt von der Wahrheit“ und so als matter Schein – als Abklatsch – denunziert wurden, während zugleich vor ihnen gewarnt wurde, weil sie die Maßstäbe durcheinanderbrächten, der Willkür Tür und Tor öffneten und falsche Emotionen weckten, ja sich „mit dem Unvernünftigen in uns zu nichts Gesundem“ verbündeten.
Statt das Seinsschwache also nicht weiter ernst zu nehmen, wird es zum Skandalon erklärt. So wie Platon die Dichter und Maler aus seinem Staat ausschließen wollte, waren Protagonisten des Imaginären immer wieder bedroht. Im Protestantismus etwa warf man den Künstlern vor, über zu geringe Mittel zu verfügen, um das höchste Sein – das Göttliche – wiedergeben zu können; Romanautoren hingegen unterstellte man, die Leser auf Abwege zu führen, ihnen ein „Schwitzbad der Passionen“ zu bereiten. Waren hier die beiden Argumentationsrichtungen auf zwei Gattungen verteilt, so kommen sie bei Wolfgang Fritz Haug wieder zusammen. Bei ihm sind es Marketingmanager und Werbeagenturen, die sich den doppelten Vorwurf anhören müssen, mit der Warenästhetik etwas zu produzieren, das einerseits über einen „Seinsmangel“ verfügt und andererseits „Triebunruhe“ erzeugt – das also sowohl schwach als auch bedrohlich stark ist.
Die Ware gilt hier per se als problematisch, differieren doch die Interessen von Käufer und Verkäufer: Will jener einen möglichst hohen Gebrauchswert, so strebt dieser nach einem maximalen Tauschwert. Daher wird er die Ware so inszenieren, dass von ihr ein starkes „Gebrauchswertversprechen“ ausgeht.
In diesem Terminus ist jene argumentative Doppelstrategie bereits angelegt. So beschreibt Haug den Schein der Warenästhetik als eine Art der Lüge, auf die man „hereinfällt“, da sie „weit mehr“ verspricht, „als sie je halten kann“; er begnügt sich aber nicht damit, darin nur einen Mangel an Wahrhaftigkeit zu sehen. Vielmehr besteht das eigentlich Perfide für ihn darin, dass den Konsumenten in der Warenästhetik „fortwährend unbefriedigte Seiten ihres Wesens aufgeschlagen“ werden.
Die Verpackung der Ware entblößt die geheimen Wünsche der Kunden und deutet sie aus; sie appelliert einseitig an die Sehnsüchte und Triebe. Auf diese Weise erwirbt sie enorme Macht und wirkt stark normierend, entwürdigt die Menschen aber vor allem.
In der nun vorgelegten, deutlich erweiterten Neuauflage seines Buchs (siehe Kasten auf dieser Seite) bekräftigt Haug seinen vor vierzig Jahren entwickelten Standpunkt, habe sich doch „im Kern“ nichts am Charakter der Warenästhetik geändert. Neu seien höchstens die „hochtechnologischen Produktivkräfte des Imaginären“, die die Gebrauchswertversprechen noch perfekter erscheinen lassen; neu sei ferner die globalisierte Herrschaft der Warenwelt, deren ästhetische Darstellung „für die Hälfte der Menschheit“ das übertreffe, „was religiös oder magisch für möglich gehalten wird“.
Wie schon die erste Fassung enthält auch die Neuausgabe zahlreiche Beispiele, die jedoch oft nicht mehr eigens analysiert werden. Vielmehr scheint sich Haug darauf zu verlassen, dass sie für sich sprechen. Das aber gelingt nicht immer, und Kapitel, in denen es um Sponsoring oder Solidarmarketing geht, hätten einer genaueren Durcharbeitung bedurft, um nahezulegen, dass die Konsumenten der warenästhetischen Willkür der Produzenten tatsächlich überall so passiv ausgesetzt sind, wie Haug es unterstellt. So reflektiert er nicht, was es bedeutet, mittlerweile jeweils zwischen höchst verschiedenen Varianten – Inszenierungen – eines Produkttyps wählen zu können, die den Konsumenten keineswegs alle auf ein Triebwesen verkürzen.
Vielmehr sprechen etwa Bioprodukte oder im Zuge einer Corporate Social Responsability (CSR) geplante Projekte ganz andere Interessen an. Manche Marken, wie etwa Bodyshop, spiegeln auch nicht nur bereits vorhandene Bedürfnisse, sondern nutzen ihre Produkte als Medien, mit denen bestimmte Werte transportiert und in ihrer Geltung verbreitet werden. Dass die ökologische Sensibilität ohne entsprechende Produkte und Supermärkte noch auf viel niedrigerem Niveau wäre, darf also getrost vermutet werden.
Würde man die Konsumgüter generell als Massenmedien – in direkter Konkurrenz zu Fernsehen oder Kino – betrachten, stünden auch Beschreibungskategorien zur Verfügung, die dem heutigen Selbstverständnis vieler Menschen als bewusster Konsumenten besser entsprächen. Dann wäre klar, dass viele Produkte nicht anders „manipulieren“ als Filme oder Zeitungen, ja dass mit ihnen Situationen und Tätigkeiten – Welterfahrungen – interpretiert und nahegebracht werden.
Als Konsument entscheidet man sich für einzelne Interpretationen aus ähnlichen Gründen, aus denen man bestimmte Regisseure oder Autoren besonders schätzt: Man sucht nach einem Mehrwert, nach überraschenden Deutungen, prägnanten, witzigen, frivolen oder moralischen Aussagen. Damit aber braucht man auch keine Grundsatzkritik, sondern wird eher von Fall zu Fall Kritik an der schlechten Umsetzung oder der Tendenz einzelner Interpretationen üben.
Für Wolfgang Fritz Haug ist das freilich nicht genug. Für ihn hat, wer so vorgeht, bereits kapituliert, ja seinen Verstand „in übereifrigem Gehorsam“ geopfert und vergessen, „dass es Warenkapital ist, was von der Werbung ästhetisch inszeniert wird“. Der Dämonisierung der Ware als einem Urübel bleibt Haug also auch in der Neuauflage seines Buchs treu. Dabei legt gerade die Doppelstrategie seiner Argumentation es nahe, Waren als Medien aufzufassen. So waren es nämlich meist die jeweils neuen Medien, die damit bekämpft wurden. Und daher treffen inzwischen die Konsumkultur die Aversionen, die ehedem Schrift, Bildern, Film, Fernsehen oder Videospielen galten. Die aktuellste Form der Medienkritik ist die Kritik der Warenästhetik.