: Das Heldentum der Arbeiterklasse
Max von der Grün war einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Nachkriegszeit. Mit seinen Büchern wurde er zum Chronisten einer versunkenen Kultur – der des deutschen Proletariats. Vorgestern ist er in Dortmund im Alter von 78 Jahren gestorben
Von JAN FEDDERSEN
Vor vier Jahren, kurz vor seinem 75. Geburtstag, hatte er Lust wie Gelegenheit, über sein Leben Auskunft zu geben. „Ich habe immer viel gelesen“, sagt er, immer noch das knarzige, kantige, sympathische Gesicht im bewegten Mienenspiel, und „eines Tages dachte ich, das Schreiben ist einfach, das kannst du auch.“ Was noch heute wie das Zeugnis einer aufreizend-unerschütterlichen Selbstermutigung klingt, war tatsächlich für Max von der Grün biografisch umstürzend. 1926 in Bayreuth als Spross einer dem verarmten Adel entstammenden Schuhmacherfamilie zur Welt gekommen, besuchte er die Schule bis zur Mittleren Reife, ehe er in den Porzellanfabriken der Rosenthals in Selb, Oberfranken, eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten machte: Kein Prolet, doch abhängig beschäftigt, wenn auch in einer Sphäre, die mit Blut, Schweiß und Tränen nicht zu kämpfen hatte – wie später seine Figuren in den Romanen aus dem Bergarbeitermilieu des Ruhrpotts.
Nach seiner Zeit als amerikanischer Kriegsgefangener absolvierte von der Grün eine Maurerlehre, ehe er, arbeitslos, als Tagelöhner unterwegs, im Bergbau unterkam – vier Jahre waren geplant, „um Geld zu verdienen“, nicht der Selbstverwirklichung wegen. Dreizehn Jahre wurden es, die er fortan unter Tage plackte – nach einem Unfall 1954 nicht mehr als Hauer, sondern als Grubenlokomotivführer.
Damals war es, als er das Schreiben von Erzählungen als wenig schwer erkannte – an Karl May, überhaupt an Abenteuerromanen und Kriminalstories geschult. Das Ruhrgebiet bot eine perfekte Topografie, um Träumen wie seinen Stoff zu geben: Eine Region, in der die proletarischen Traditionen der Arbeiterbildungsvereine noch lebten; in der viele bei Stalins Tod Anfang der Fünfziger weinten und man alles Bürgerliche für dekadent, korrupt, ausbeuterisch – und verräterhaft hielt. Eine Parallelgesellschaft im Wirtschaftswunderland, die zugleich durch immer höhere Produktivität sich selbst abzuschaffen begann: Das Ruhrgebiet stand damals quasi Sekunden vor seiner Zerstörung als Proletensoziotop – und seiner Renaissance als Dienstleistungs- und also Angestelltenparadies.
Aber das ist nur ein Blick zurück. Max von der Grün fand Anfang der Sechzigerjahre, unter den Fittichen des Bibliotheksdirektors Fritz Hüser – eines Manns, der sich der Arbeiterbildung verschrieben hatte – zu sich selbst: Sein erster Roman „Männer in zweifacher Nacht“, im Jahre 1962 veröffentlich, wenig später sein Debüt als Bestsellerautor, „Irrlicht und Feuer“: In beiden Erzählungen ist das Oeuvre von der Grüns ausgebreitet: Realistische Berichte über jene Menschen, für die der Tag auch eine Nacht ist, die schuften und ackern – und doch kaum über die Runden kommen. Die bei der Arbeit ums Leben kommen und deren Angehörigen dann keiner hilft – Verdammte dieser Erde.
Im Grunde war Max von der Grüns Schreiben vor allem eine Fortsetzung der ebenfalls abenteuerhaft-grellen Romane Hans Falladas, „Bauern, Bonzen, Bomben“, „Kleiner Mann, was nun?“ – und ebenfalls ein schriftstellernder Verwandter des noch viel erfolgreicheren Autors Johannes Mario Simmel („Es muss nicht immer Kaviar sein“), auch wenn der eher die leuchtenden Seiten des Kapitalismus auszuschmücken pflegte. Sie alle verstanden sich, jenseits allzu literarischer Ambitionen, aufs Erzählen, auf Dramaturgie, auf Spannung, auf den Cliffhanger als Strukturprinzip einer guten Geschichte: Hieß das bei Simmel irgendwie noch sex & crime, war der verborgene Untertitel bei von der Grün eher work & crime: der Plot in Schriftform, der der mündlichen Erzählung mit dem Gefühl für sicher getimte Pointen folgt.
Max von der Grün jedenfalls war über Nacht ein quasi wohlhabender Mann geworden, die Berühmtheit der „Gruppe 61“, des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, der keine Lok mehr schuckeln musste und das kohlsuppentrübe Leben zwischen den verrußten Bergbausiedlungen um Dortmund herum nicht mehr stemmen musste. Und bekam mächtig Ärger: „Irrlicht und Feuer“ wurde von den Zecheneignern völlig richtig als skandalöse Enthüllung des wahren Lebens in der Kohlengrube gelesen – worauf sie ihren Autor hinauswarfen. Die Gewerkschaften hingegen hassten ihn auch von Stund an, denn Max von der Grün war sich nicht zu fein, die Idee der Sozialpartnerschaft unter Tage als Klassenverrat zu beschreiben und dies auch noch ziemlich konkret: Bonzenhuberei. Und, schlimmer noch: Der Roman wurde gar verfilmt, aber von den Falschen – vom DDR-Fernsehen, dem feindlichen Medium schlechthin.
Das musste ihn nicht kümmern, er war immer noch und eigentlich immer mehr verankert im Ruhrpott, er hatte dort seine Leser, und zwar hunderttausendfach. Ein schreibender Held der Arbeiterklasse. Anfang der Siebziger nannte man ihn endgültig einen „Arbeiterschriftsteller“. Eine korrekte Bezeichnung einerseits, andererseits hingegen eine Zuschreibung, die Dünkel verriet – des Stoffes wegen, aber auch des Erfolgs wegen: Max von der Grün war populär, bahnhofsbuchhandelsgeeignet, ein Autor, der Kurzweiligkeit ohne Gedöns versprach: In Amerika, das er der laxen Lebensart wegen verehrte und zugleich, deutschtypisch, wegen seines „Konsumterrors“ (von der Grün) hasste, hätte das locker für Schriftstellerpreise gereicht. Ein Grisham der niederen Stände – was für ein Erfolg.
Das hätte dort auch Hollywood locken können – in Deutschland, immerhin, wurde von der Grün zu einem der meistverfilmten Autoren. Obendrein war er es, der einen wie Rainer Maria Fassbinder für seine Serie wie „Acht Stunden sind kein Tag“ inspirierte, der überhaupt den genaueren Blick auf die Übersehenen möglich machte: Max von der Grün, auch ein Ethnologe inländischer Szenen: Allen Dramen und Freuden im Ruhrgebiet zum Trotz, wusste er in seinen Romanen den Beschriebenen so etwas wie Würde zurückzugeben: Hey, eure Geschichten sind nicht beschämend, denen muss man zuhören!
Die Gesamtauflage all seiner Romane ist eine siebenstellige geworden – und sein Jugendroman „Vorstadtkrokodile“ hat es sogar in die Schulcurricula der Bundesländer geschafft: ein Longseller, wie sein Verlag gern bestätigt. Politisch hat Max von der Grün zunächst den Gewerkschaften, später der DKP und alles in allem der sozialdemokratischen Idee der Gerechtigkeit nahe gestanden. „Du musst dich wehren“, lautete sein Credo, „weil man es schaffen kann.“ Solidarität war ihm keine Floskel, sondern ein notgedrungener Teil jener Moral, ohne die man als Klopper oder Hauer keinen Stich bekommen hätte.
Dass seine persönliche Welt eine war, in der Frauen nur selten vorkamen, und wenn, dann als Ehefrauen, nicht als Industriearbeiterinnen; dass sie eine war, in der die so genannten Gastarbeiter, die Proleten der Moderne, nicht vorkamen: Das kann nicht ernsthaft ein Vorwurf sein, wie er dennoch gerade in literarischen Archiven geäußert steht: Max von der Grün war der wichtigste Autor der Nachkriegszeit über Welten, die im bürgerlichen Deutschland die unfeinen sind. Der bekennende Wahldortmunder („Das Bier im Ruhrgebiet ist am besten“), der, vielleicht ein Hinweis auf seinen Klassensnobismus, Wein für ein bourgeoises Getränk hielt und Canapés für Sitzmöbel, hat dem Proletarischen als Gegenstand des Erzählens den Hautgout genommen – the working class, das ist jedem seiner Bücher zu entnehmen, war ihm keine Masse, sondern die Zugehörigkeit wie zu einer Schicksalsgemeinschaft von Einzelnen. Wobei auch von der Grün vom Ressentiment lebte – der Angestellte war ihm kein Arbeiter: Er roch einfach zu wenig unentfremdet, zu sauber, ja, vielleicht gar zu weiblich.
In den letzten Jahren hat Max von der Grün gewiss die Welt nicht mehr verstanden. Auf Schalke sind die Grünen eingezogen, die Sozialdemokraten haben den blauen Himmel über der Ruhr längst vom Dreck gesäubert, Proleten überhaupt sind umgeschult, das Bergarbeitermilieu ist in Mitteleuropa eines, für das sich Historiker interessieren. Eine Oper mit dem Libretto von der Grüns floppte – zu viel Pathos zur falschen Zeit: „Brot und Spiele“ war ein trauriges Stück misslungener Nostalgie in Sachen Gerechtigkeitsklagen an die böse Welt.
Anfang der Neunziger teilte er mit, er habe den Aufruf des Komitees für Gerechtigkeit unterzeichnet: „Mit Wut und Verdrossenheit“ beklagte er, dass mit dem Fall der Mauer die DDR eine „Kolonie“ der BRD geworden sei. Das mag man naiv nennen. Doch das Bewusstsein, dass die DDR anders als die Bundesrepublik eine „arbeiterliche Gesellschaft“ war – eine, in der das Wort Prolet sich nicht auf Trash reimte –, gerechter, ist ihm nicht auszureden gewesen. „Weshalb auch?“, mag er sich gedacht haben. Die Arbeiter- und-Bauern-Republik als Verheißung – als eschatologisches Phantasma von Menschen – Max von der Grün hat das so empfunden, wie viele Millionen nach der Wende auch hierzulande. Und fünf Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik leben vielleicht nicht im Elend, wie es Pauperisierte des 17. Jahrhunderts tun mussten. Aber auch sie erzählen Geschichten, sie sind „Mühselige und Beladene“, welche genügend Stoff erzählen könnten über das Leben unterhalb der Caffè-latte-Schaumkrone. Einen Chronisten, einen story teller wie Max von der Grün, einen, der ihnen eine Stimme gibt, haben sie nicht.
Literatur wie die Falladas, von der Grüns, auch die Gorkis, Sinclairs oder Balzacs, versiert im Heutigen, fehlt ja überhaupt. Im Alter von 78 Jahren ist Max von der Grün Donnerstagabend in Dortmund gestorben.