„Zwei Drittel der Migranten geht es schlecht“

Die Armut unter den türkischen MigrantInnen ist doppelt so hoch wie bei den Deutschen. Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien spricht von einer alarmierenden Entwicklung vor allem bei Jugendlichen und RentnerInnen

taz: Die Armut unter türkischen MigrantInnen steigt. Ist es bei den Deutschen nicht genauso?

Faruk Sen: Die Lage der Migranten ist besonders dramatisch. Während nach dem neuesten Armutsbericht der Bundesregierung 14 Prozent der deutschen Staatsbürger unter der Armutsgrenze leben, liegt die Zahl der armen türkischen MigrantInnen bei 30 Prozent, also fast doppelt so hoch. Dazu kommen 35 Prozent, die knapp überhalb derArmutsgrenze leben. Das sind dann zwei Drittel der Türken, denen es wirtschaftlich schlecht geht.

Welche Altersgruppen sind besonders betroffen?

Da ist zum einen die Gruppe der jungen türkischstämmigen Migranten. Vor allem wenn sie in größeren Familien leben, ist ihr Armutsrisiko höher. Der Übergang von Schule zu Beruf kann auch zur Armutsfalle werden: Wenn die Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz bekommen, werden sie zu Hilfsarbeitern oder bleiben lange arbeitslos.

Neben Großfamilien gehören alleinerziehende Haushalte zu den Armutsgruppen. Ist das auch ein Problem bei den türkischen MigrantInnen?

Bisher nicht, aber das könnte zukünftig auch ein Problem werden. Die Scheidungsraten unter Türken sind in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Vor allem bei denen, die einen Partner oder eine Partnerin aus der Türkei hierher geholt haben.

Stark angestiegen ist vor allem die Armut unter älteren MigrantInnen. Die deutschen RentnerInnen leben im Durchschnitt dagegen sehr gut. Woher kommt das?

Das ist ganz einfach: Die Türken arbeiten oft in niedrigen Lohnklassen und haben oft nicht durchgängig in die Kassen eingezahlt. Viele ältere Arbeitnehmer sind in Frührente geschickt worden oder erhalten Invalidenrente. Das ist besonders im Ruhrgebiet so, wo Menschen unter harten Bedingungen körperlich gearbeitet haben.

Geht es den türkischen Migranten im Ruhrgebiet denn noch schlechter als im Bundesdurchschnitt?

Im Ruhrgebiet sind besonders viele Migranten arbeitslos. Die Arbeitsplätze in der Stahl- und Autoindustrie, in der Migranten vor allem gearbeitet haben, sind zum großen Teil schon weggefallen. Die Jugendlichen bekommen keinen Ausbildungsplatz. Die Insolvenzen bei türkischen Unternehmen steigen.

Was kann die Politik dagegen tun?

Wir müssen verhindern, dass die Perspektivlosigkeit zu Abschottung und Radikalisierung führt. Die Bildung ist der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Wir brauchen mehr Projekte zur Förderung von jungen Migranten. Es darf auch nicht sein, dass in manchen Klassen 90 Prozent türkische Migranten unterrichtet werden. Um das zu verhindern, müssen die jungen Leute auch bereit sein, in andere Stadtteile zur Schule zu gehen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Institutionen wie die Schuldenberatung und Hilfen zur Existenzgründung interkulturell geöffnet werden. Ich hoffe außerdem auf einen baldigen Wirtschaftsaufschwung, von dem auch die Migranten profitieren können.

INTERVIEW:NATALIE WIESMANN