Der klimaneutrale Bluff

FLUGABGABE „Kompensation von CO2-Emission ist nur die zweitbeste Lösung“, sagt Dietrich Brockhagen von atmosfair

■ 44, ist Geschäftsführer der Non-Profit-Organisation atmosfair (atmosfair.de) seit ihrer Gründung im Jahr 2005. Die gemeinnützige Klimaschutzagentur ging aus dem Forschungsprojekt „klimabewusst fliegen“ des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) hervor, die Brockhagen leitete. Zuvor arbeitete der Physiker und promovierte Umweltökonom beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, beim Umweltministerium und im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.

INTERVIEW GÜNTER ERMLICH
UND EDITH KRESTA

taz: Herr Brockhagen, Ablasshandel, schlechtes Gewissen, Schmerzpille. Können Sie diese Begriffe als Chiffre für die Kompensation der CO 2 -Emission bei klimaschädlichen Flügen noch hören?

Dietrich Brockhagen: Ich verstehe, dass Journalisten das Thema plakativ verkaufen wollen. Als Umweltschützer habe ich auch nichts gegen die Vorstellung: „Ich bezahle für meine Sünden“, solange das Geld dem Klima nützt. Was mich stört, ist der Begriff „Klimaneutralität“.

Warum?

Damit wird das Gefühl verkauft, Kompensation sei schon die Lösung. Aber der Name sagt es ja schon: Kompensation ist nicht der wahre Jakob, sondern nur die zweitbeste Lösung.

Also kann man nicht klimaneutral fliegen?

Nein, kann man nicht, die Kondensstreifen verschwinden schließlich nicht, wenn wir in Südafrika Windräder aufbauen. Wenn sich ein Flug nicht vermeiden lässt, ist Kompensation aber das Beste, was man tun kann, ein sinnvoller Klimaschutzbeitrag, aber nicht die Lösung des Problems. „Klimaneutralität“ suggeriert aber: Das schadet dem Klima nicht.

Alle Welt gibt sich heutzutage klimaneutral: der Vatikanstaat, die Leuphana-Universität Lüneburg, der Reiseveranstalter Studiosus, die Stadtwerke Soest. Verkommt die Kompensation jetzt zum reinen PR-Instrument?

Es geht leider in diese Richtung. Ich mache dies vor allem an den Produkten fest, die kompensiert werden. Wir arbeiten zurzeit an einer Studie zu den Grenzen von Kompensation. Dabei teilen wir alle Güter und Dienstleistungen, die man potenziell kompensieren kann, in drei Kategorien.

Welche sind das?

In die erste Kategorie gehören Produkte, die weder jetzt noch zukünftig klimaverträglich sind. Das sind Güter, die niemand braucht, zum Beispiel auf Hochglanzpapier gedruckte auflagenstarke Postwurfsendungen oder Plastikgimmicks und auch Waffen. Man könnte auch das Militär kompensieren, den Afghanistaneinsatz, aber das ist pervers. Und zum anderen sind das Produkte, die per se nicht nachhaltig und für unseren Planeten nicht tragbar sind, wie starker Fleischkonsum. Wenn alle Menschen auf der Welt so häufig Fleisch äßen wie wir in Deutschland, dann führe das Klima gegen die Wand, denn so viel CO2 kann man in Entwicklungsländern gar nicht kompensieren. Es gibt keine technische Lösung, wir werden nicht die CO2-freie Superkuh züchten, die keinen Darm hat und keine Abgase emittiert. Daher heißt die einzige Lösung: weniger Fleisch essen. Wir würden das falsche Signal senden, wenn Sie jetzt ins klimaneutrale Steakhaus gehen könnten.

Das gibt es schon?

Es gibt fast alles. Sie können klimaneutralen Gletscherurlaub kaufen, klimaneutrale Rosen im Winter, die Vignette fürs Auto, mit der Sie dann 40.000 Kilometer im Jahr angeblich klimaneutral fahren.

Und die zweite Kategorie?

Das sind Produkte, für die es heute schon eine gute Lösung gibt, wie für Autofahren oder elektrischen Strom: Fahrgemeinschaften oder erneuerbare Energien, die tatsächlich klimaneutral sind, in Deutschland mit 15 Prozent Stromanteil. Um nicht in Konkurrenz mit Ökostromanbietern wie Greenpeace Energy oder EWS zu treten, wollen wir kein CO2 von deutschem Strom kompensieren, indem wir in Indien ein Biomassekraftwerk fördern. Es gibt gute Lösungen, nutze sie! Nimm nicht die zweitbeste Lösung, wenn die beste verfügbar ist und mit deinem Geld weiterentwickelt werden kann. Wir wollen nicht die Einnahmen von atmosfair, sondern den Klimaschutz maximieren.

Wie beim Flugverkehr?

Genau, das ist die dritte Kategorie. Für den Flugverkehr gibt es noch keine technische Lösung wie problemfreie Biotreibstoffe, oder das Nullemissionsflugzeug. Wie es heute schon das Bahnticket mit erneuerbaren Energien gibt, im Strombereich die Solarzellen oder Windräder, so wird es in der Flugzeugindustrie aber irgendwann die erneuerbare Lösung geben, vielleicht das solare Wasserstoffflugzeug. Solange es diese echte Lösung noch nicht gibt und wenn du den Flug nicht vermeiden willst, sage ich: Dann gib uns Geld für die Kompensation, wir bauen damit in Nigeria effiziente Öfen, und die Nigerianer sind happy.

„Meines Wissens werden weniger als 1 Prozent der Flüge, die in Deutschland beginnen oder enden, kompensiert“

Was macht atmosfair mit den Klimaschutzspenden?

Wir haben im Jahr 2011 gut 3 Millionen an Klimaschutzbeiträgen eingenommen, mit denen wir 15 Klimaschutzprojekte finanzieren. Wie zum Beispiel das Biomassekraftwerk in Indien, das jährlich etwa 600.000 Euro von uns bekommt. In Kenia bauen wir gerade ein Projekt mit Kleinbiogasanlagen für Milchbauern auf, mit 50.000 Euro als Startfinanzierung.

Bei einer repräsentativen TUI-Umfrage zu Reisetrends von Oktober 2010 gaben 8 Prozent der Befragten an, künftig bei Flugreisen eine freiwillige zusätzliche CO 2 -Kompensation leisten zu wollen. Bei einer ähnlichen Umfrage von Forsa im Auftrag des Spiegels von 2006 sagten sogar zwei Drittel der Befragten, dass sie den Beitrag für gute Klimaschutzprojekte zahlen würden. Sind die Menschen wirklich bereit, zu handeln, oder geben sie das nur vor?

In meinen Augen sind das sozial erwünschte Antworten. Meines Wissens werden weniger als 1 Prozent der Flüge, die in Deutschland beginnen oder enden, kompensiert. Das gilt für atmosfair und andere Anbieter zusammengerechnet.

Kann man bei atmosfair nur Flüge kompensieren?

Nein, man kann auch Kreuzfahrten und Veranstaltungen wie Tagungen und Kongresse kompensieren.

Im November ging atmosfair eine Kooperation mit dem Verband Deutsches Reisemanagement (VDR) ein. Warum?

Wir haben mit dem VDR einen Standard herausgebracht zum Thema CO2-Berechnung bei Geschäftsreisen. Große Unternehmen, die in Aktienindizes wie dem Dow Jones Sustainability gelistet sein wollen, müssen über ihre Klimastrategie und ihre CO2-Emissionen Rechenschaft ablegen. Denn sie stehen im Wettbewerb um Investoren und Kunden. Deshalb wollte der VDR als Service für seine Unternehmen ein Tool anbieten, mit dem CO2-Emissionen sauber bilanziert werden können. In Deutschland gab es 2010 fast 160 Millionen Geschäftsreisen. Bei über 300 Millionen Teilnehmern, darunter 5 Prozent aus dem Ausland, kann man die CO2-Emissionen allein durch Flugreisen zu Konferenzen in Deutschland auf etwa 30 Megatonnen schätzen. Das ist ungefähr so viel, wie die Einwohner von Berlin in einem ganzen Jahr verursachen.

Für einen Hin- und Rückflug von Berlin nach Istanbul zahlt man bei atmosfair 22 Euro als Kompensation, bei Lufthansa über den Emissionsrechner der Schweizer Klimaschutzagentur myclimate 11 Euro und bei TUIfly während der Onlinebuchung 8 Euro. Drei unterschiedliche Beträge für dieselbe Strecke. Welcher Kunde blickt da durch?

Der Unterschied ist, dass wir bei der Flugberechnung neben dem CO2 die anderen Schadstoffe nach dem Stand der Wissenschaft einbeziehen, während unsere Mitbewerber dies nicht alle tun. Dabei berechnen wir die starke Klimawirkung der Schadstoffe in großen Höhen ein.

Was bedeutet das?

■ Flugsommer 2011: Während des Sommerflugplans von April bis Oktober 2011 flogen insgesamt 65,0 Millionen Passagiere von deutschen Flughäfen ab. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren das 5,5 Prozent oder 3,4 Millionen Fluggäste mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum.

■ Die Zielgebiete: Die Mittelmeerinseln als aufkommenstärkste Region kamen mit 5,5 Millionen Fluggästen auf ein Plus von 6,7 Prozent. Zwei Drittel flogen auf die Balearen, ein Fünftel reiste auf die griechischen Inseln.

■ Gewinner Kanaren: Bei nicht zur Mittelmeerregion zählenden Destinationen erzielten die Kanarischen Inseln mit +15,3 Prozent die höchste Steigerung seit 20 Jahren.

■ Das Fluggastvolumen des Gesamtmarkts: Es erhöhte sich primär durch das höhere Aufkommen im Europaverkehr, der um 3,2 Millionen Passagiere (+ 8,6 Prozent) zulegte. Das verhaltene Wachstum des Passagieraufkommens im Interkontinentalverkehr (+1,0 Prozent) ist auf den Rückgang für Afrika (–15,3 Prozent) zurückzuführen, wobei Ägypten mit –25,7 Prozent und Tunesien mit –35,4 Prozent die stärksten Einbrüche zu verzeichnen hatten.

Wir multiplizieren in Höhen über 9.000 Meter die CO2-Emission mit dem Wirkungsfaktor 3. Beim Langstreckenflug kommt so ein Klimaaufschlag mit Faktor 2,7 zum CO2 hinzu, weil dabei 90 Prozent der Abgase in großen Höhen ausgestoßen werden. Beim Kurzflug in Deutschland legen wir unseren Kunden nahe, doch lieber mit der Bahn zu fahren. Hier beträgt der Wirkungsfaktor effektiv aber nur 1 oder 1,5, weil gar kein oder nur ein kleiner Teil der Abgase in diesen großen Höhen ausgestoßen wird.

Woher stammt dieser Zahlenfaktor?

Weil es immer wieder Anwürfe seitens der Luftverkehrsindustrie gab, machte das Bundesumweltamt 2008 eine Expertise und legte den Faktor auf 3 bis 5 fest. Seit über 20 Jahren gibt es u. a. Studien des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt zur erhöhten Klimawirkung des Flugverkehrs, die seit 1999 in Berichten des Weltklimarats veröffentlicht werden. Aufgrund der Forschung kennen wir die qualitativen Effekte wie den Prozess der Entstehung von Kondensstreifen, während es quantitativ noch Unsicherheiten gibt.

Neben den Klimaschutzprojekten betonen Sie stets die Bewusstseinsbildung als zweites Standbein von atmosfair.

Jeder Besucher kann auf unserer Website die Klimabilanz seines Flugs ausrechnen. Dieses Standbein würden wir gefährden, wenn wir nicht mehr die ökologische Wahrheit nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft sagen würden. Wir dürfen nicht das Gefühl vermitteln: „Ach, die Kompensation kostet nur 7 Euro“, wenn sie in Wirklichkeit aber 30 Euro kosten müsste. Wenn wir nicht die Preiswahrheit bei einem freiwilligen Instrument sagen, wie wollen wir dann hoffen, dass je eine angemessene Flugklimasteuer akzeptiert wird?

Chinesen und Inder werden künftig mehr reisen und fliegen. Sind Klimaschutzspenden hiesiger Lohas nicht Peanuts angesichts der prognostizierten gewaltigen Explosion des asiatischen Reisemarkts?

Ja klar, absolut gesehen sind das Peanuts. Wenn Sie als Person im Jahr insgesamt 9 Tonnen CO2 emittieren, wird man diese im Meer der globalen Klimatonnen nie registrieren; trotzdem sind Sie allein mit Ihrem Flug für 5 Tonnen verantwortlich. Alles, was ich tue, ist Peanuts, wenn ich mich mit China vergleiche. Ihre Entscheidung treffen Sie individuell. Bezogen auf China sind das dann 0,0 Prozent, aber bezogen auf das, was Sie auf der Welt ändern können, sind es 100 Prozent.

Mehr: Ein längere Version des Interviews steht unter: taz.de/atmosfair