Einstimmung auf kommende Grausamkeiten

Maximal zur Hälfte decken ostdeutsche Länder ihre Haushalte durch eigene Einnahmen Der abgehärtete „Ossi“ ist auf Schrumpfungsprozesse eher einzustimmen als der verwöhnte Westdeutsche

AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH

Auf einer der Regionalkonferenzen der sächsischen CDU, die der Aufarbeitung der katastrophalen Wahlniederlage vom Herbst 2004 dienen sollte, erhob sich der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde. Welches Lebensgefühl und welche Perspektiven solle er seinen Bürgern noch vermitteln, wenn die Kirche verwaist, Gemeindeamt, Post, Sparkasse und Kneipe nacheinander geschlossen hätten und nun auch noch die Schule mangels Mindestschülerzahl auslaufe? „Man kann die Zugkraft einer Lokomotive auch erhöhen, indem man die letzten Wagen abhängt“, stichelte er gegen die von Ministerpräsident Georg Milbradt favorisierte Leuchtturmpolitik.

Sein Plädoyer für den ländlichen Raum fand viel Beifall, und es hatte auch etwas mit dem Verlust von fast 16 Prozent der Wählerstimmen zu tun. Denn die NPD hat in Sachsen genau in diesen Räumen zugeschlagen und mit Zukunftsängsten gepunktet. Die sächsische Union als Regierungspartei steckt hier in einem besonderen Dilemma. Wohl herrscht bei einem Pragmatiker wie Milbradt und in den Hintergrundpapieren des Finanzministeriums Klarheit über die künftigen Rahmenbedingungen. Gleich zwei Kommissionen zum demografischen Wandel konstituierten sich bei Regierung und Landtag. In den Hochglanzbroschüren und den Hauruck-Reden vor den Mikrofonen aber dominiert nach wie vor das Selbstbild des Klassenbesten und des auserwählten Volkes, das sich in den konservativen Rastern von Expansion und Fortschritt entwickeln werde.

In Sachsen-Anhalt hingegen hat Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) gleich nach seinem Amtsantritt 2002 die Bevölkerung auf einen drastischen Sparkurs eingeschworen. In Thüringen spricht der seit knapp zwei Jahren amtierende CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus inzwischen auch ganz offen von „Zumutungen“.

Während die Bevölkerungsprognosen für Westdeutschland eher eine relative Konstanz durch Wanderungsgewinne erwarten lassen, wird den östlichen Bundesländern bis zum Jahr 2020 ein allgemeiner Rückgang zwischen 11 und 13 Prozent vorhergesagt. Sachsen-Anhalt, so schätzt das Statistische Landesamt, wird bis dahin eine halbe Million Einwohner verlieren und auf etwa 2 Millionen Bürger schrumpfen. Diese Bevölkerungsverluste sind in allen ostdeutschen Bundesländern nur zum geringeren Teil auf die Westabwanderung zurückzuführen. Die wiegt allerdings substanziell schwer, weil die Weggehenden überwiegend jung, gut qualifiziert und weiblich sind. Der Bevölkerungsschwund geht aber vor allem auf den Geburtenknick der Wende zurück, als sich die Geburtenzahlen halbierten und seither nur sehr langsam wieder steigen. Und er fällt regional höchst unterschiedlich aus. Schon jetzt verzeichnen nicht nur ländliche Regionen, sondern beispielsweise auch Städte wie Hoyerswerda oder Weißwasser ein Minus in Größenordnungen von 40 Prozent, während die Landeshauptstadt Dresden sogar einen leichten Bevölkerungszuwachs erwartet.

Allein schon diese demografischen Faktoren haben negative Auswirkungen auf das eigene Steueraufkommen, die Einnahmen aus dem Länderfinanzausgleich und die abrufbaren Fördermittel. Zusätzlich geraten die ostdeutschen Länder durch die mittel- und langfristige Schrumpfung ihrer öffentlichen Haushalte unter Druck. Von kommendem Jahr an sinken die Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisungen aus dem Solidarpakt II. Zunächst werden die Zuweisungen für den Abbau der Infrastrukturlücke bis 2014 schrittweise zurückgefahren. In den letzten fünf Jahren der Laufzeit des Paktes bis 2019 werden dann auch noch die Zuschüsse nach dem Investitionsfördergesetz abgebaut. Laut Sächsischem Finanzministerium würde so das Einnahmevolumen des Freistaats von real 14,6 Mrd. Euro im Jahr 2002 auf 11,3 Mrd. Euro im Jahr 2020 sinken. Dabei ist sogar schon ein Wachstumseffekt von 1 Prozent Steuermehreinnahmen jährlich eingeplant, der 2,1 Mrd. Euro Zuwachs bringen soll.

Maximal zur Hälfte oder weniger decken die ostdeutschen Länder ihre Haushalte mit eigenen Steuereinnahmen. Ein Wirtschaftsaufschwung oder eine Steuerpolitik, die die sinkenden Bundeszuschüsse kompensieren könnte, ist nicht in Sicht. „Eine Finanzierung aus eigener Kraft ist absehbar nicht zu erwarten“, sagt Finanzwissenschaftler Prof. Marcel Thum, Vorsitzender der sächsischen Regierungskommission, zum demografischen Wandel.

Bei der Förderpolitik steht das größte Fragezeichen hinter den EU-Strukturfonds, sollte Ostdeutschland nach 2006 wegen des Beitritts der Osteuropäer seinen Ziel-1-Status verlieren. Aus diesem Grund will beispielsweise Dresden in einer Art Torschlusspanik über neue Schulden alles kofinanzieren, was an Förderung gerade noch abrufbar ist. Überall wachsen die Belastungen aus dem Schuldendienst, wobei Sachsen in der Tat vorbildlich wenig auf Pump finanziert hat. Sachsen-Anhalt hingegen ist mit 7.172 Euro Spitzenreiter unter den Flächenländern in der Pro-Kopf-Verschuldung.

Die Antwort auf die Herausforderungen besteht unter dem Schlagwort „Haushaltkonsolidierung“ zumeist in klassischer Rotstiftpolitik bei gleichzeitigen Konzessionen an die Besitzstandswahrung. In Thüringen wollen die Kommunen gegen die Kürzung ihres Finanzausgleichs um 200 Mio. Euro klagen. Bis 2009 sollen 80 Ämter geschlossen oder zusammengelegt und die Landespersonalstellen um 7.400 reduziert werden. In gleicher Größenordnung will Sachsen allein schon Lehrerstellen abbauen und jede dritte Mittelschule schließen, ohne sich indessen an eine Reform des ineffizienten Schulsystems zu wagen. Entsprechend heftig protestierten jüngst 15.000 Lehrer, Eltern und Schüler vor dem Dresdner Kultusministerium.

Die Entwicklung alternativer Strukturen und die Gestaltung lebenswerter Räume jenseits von Wachstumsideologien steckt noch in den Anfängen und wird auffallend oft von der Opposition geleistet. Die PDS beispielsweise hat in Sachsen das alternative Landesentwicklungskonzept „Aleksa“, in Thüringen den so genannten Masterplan und in Sachsen-Anhalt ein Konzept für den ländlichen Raum entwickelt.

Haben die Regierenden bei der Durchsetzung der anscheinend unausweichlichen Konsequenzen ein Vermittlungsproblem? Nicht, wenn sie die Bürger möglichst aktiv einbeziehen, sagt Jens Bullerjahn, mittlerweile Vorsitzender der SPD-Oppositionsfraktion im Magdeburger Landtag. Rund 80 Veranstaltungen hat er bislang zu seinem Papier „Projekt Sachsen-Anhalt 2020“ initiiert. Sparen dürfe nicht mit einer Verteilungsdiskussion gleichgesetzt werden. Die Entwicklung biete insofern schon jetzt Chancen, als sie effizientere Verwaltungsstrukturen, Budgetierungsmodelle bei Hochschul- und Kultureinrichtungen oder dezentrale Schulmodelle befördere.

In der zentralen Streitfrage der Schrumpfungsdebatte bleibt Bullerjahn allerdings ein Hardliner. „Für ländliche Räume und Ballungsgebiete wird es unterschiedliche Entwicklungswege geben müssen“, heißt es in seiner Denkschrift. Es geht schlichtweg um Konzentration schwindender Fördermittel auf Erfolg versprechende Gebiete und Projekte.

Die Meinungen über den „Landumbau Ost“ differieren hier quer zu Parteigrenzen. Das CDU-geführte Landwirtschaftsministerium in Sachsen-Anhalt hat soeben eine „Allianz für den ländlichen Raum“ propagiert, die mit „integrierten ländlichen Entwicklungskonzepten“ eine Grundversorgung an Kindergärten, Schulen, Dienstleistungen, Kultureinrichtungen und Nahverkehr sichern will. „Wir wollen den ländlichen Raum nicht zugunsten der Leuchttürme vernachlässigen“, sagt auch der Thüringer Staatskanzleichef Gerold Wucherpfennig. „Leuchtturmpolitik in ihrer radikalen Form funktioniert nicht“, bestätigt Demografieexperte Marcel Thum in Dresden.

Unumstritten dürften dabei jene „Haltefaktoren“ sein, die Sozialwissenschaftlerin Christiane Dienel in Magdeburg formuliert hat und die Menschen in Stadt und Land an den von Auszehrung bedrohten Osten binden sollen. Es sind neben den harten Faktoren von Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur vor allem ideelle Bindekräfte. „Freundschaftsnetzwerke“, Nachbarschaft, Organisation in Vereinen, Bürgerengagement und politische Teilhabe werden genannt. Man fühlt sich unwillkürlich an die „kleinen Lebenskreise“ Kurt Biedenkopfs erinnert und seine Appelle an den Regionalstolz, wenn man denn schon nicht mit dem Westwohlstand mithalten könne. „Kultur wird wichtiger“, meint auch Martin Dulig, stellvertretender SPS-Fraktionsvorsitzender in Sachsen. Deshalb hat die CDU-SPD-Koalition das Kulturraumgesetz, den Rettungsanker der kommunalen Kultur, besser ausgestattet.

Sind die „Ossis“ eigentlich eher auf den Schrumpfungsprozess einzustimmen als die verwöhnten Westdeutschen? Jens Bullerjahn wagt eine Antwort und ein eingeschränktes „Ja“: „Sie sind Brüche gewohnt und haben eine pragmatischere, realistische Lebenshaltung.“