SCHACHFIEBER, FILMFIEBER, ERKÄLTUNGSFIEBER : Wolkenfetzen im Himmel von 1930
DRAUSSEN IM KINO
Am Mittwoch, auf dem Weg zum Akkreditierungsbüro, kam die Panik. Ich wusste nicht mehr, ob ich wie gefordert die Bestätigung meiner Akkreditierung auch bestätigt hatte. Ich stellte mir vor, wie die Akkreditierungsbeauftragten mich bedauernd anschauen und sagen würden, aber Sie haben die Bestätigung Ihrer Akkreditierung ja gar nicht bestätigt; tut uns leid, da können wir nichts machen. Und wie ich dann in einer Kolumne namens „Vor der Tür“ von meinen Erlebnissen am Potsdamer Platz schreiben würde. Wie immer war aber alles normal.
Erleichtert stand ich noch ein bisschen vor dem Berlinale-Palast und schaute den Leuten beim Aufbauen zu. Es gab auch eine Tonprobe, bei der die Reportage über ein Fußballspiel von Bayer Leverkusen verwendet wurde, die an diesem Mittwoch gar nicht spielten.
Einen Tag später füllt sich allmählich der Potsdamer Platz. In dem Moment, wo man zum ersten Mal seine komische Akkreditierung zeigt, legt sich ein Schalter um, alles scheint wie immer. Auch dass die diesjährige Berlinale-Tasche anders aussieht, ist wie immer. Sie ist schlicht rot, noch leichter als die blaue vom vergangenen Jahr, sehr schlicht und wird von vielen „Turnbeutel“ genannt.
Ich sitze im Cinemaxx. In einer Viertelstunde wird Farhan Akhtars größtenteils in Berlin gedrehter Film „Don – The King is Back“ mit dem indischen Superstar Shah Rukh Khan angepfiffen. Alle Leute um mich herum scheinen Französisch zu sprechen. Kurz vor Beginn des Films kommt Dorothee Wenner, Kuratorin vom Forums-Programm, vorbei. Ihr Name steht auch im Abspann mit drin. Sie erzählt, Shah Rukh Khan sei grippal, wenn ich’s richtig verstanden hab. Deshalb könne er auch nicht wie geplant später bei Gottschalk auftreten. Er residiere in einem schönen Hotel und werde fleißig twittern. Am Anfang des Films steht das Bild der indischen Göttin des Reichtums. Im Vorspann wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Zigarettenrauchen ungesund ist. Weil Shah Rukh Khan ja gern raucht, auch in einigen Passagen des Films ganz effektvoll.
Schnee und Kälte lassen den Potsdamer Platz gut aussehen. Es bringt auch Spaß, in diesen Tagen lange Unterhosen zu tragen. Nur im Kino ist es dann zu warm. Und plötzlich, während der Eröffnung der Retrospektive „Die rote Traumfabrik“, ist mir auch ein bisschen fiebrig. Es läuft der schöne Film „Chess Fever“ (1925) von Wsewolod Pudowkin mit Klavierlivebegleitung, der anschaulich davon erzählt, wie Moskau wochenlang durch ein grassierendes Schachfieber lahmgelegt wurde, wie alle alles andere vernachlässigen, weil sie dem Schachfieber erlegen sind. Der damalige Weltmeister Capablanca ist auch dabei. Danach kommt die ziemlich antiklerikale Komödie „St. Jorgens Day“ (1930) von Protasanow. Man sieht die Wolkenfetzen des Himmels von 1930 und denkt daran, wie die Leute damals, die nun ja fast alle schon tot sind, auch in diesen Himmel geguckt haben.
Wieder zu Hause, schaue ich mir ein Video an, das ein Kollege gepostet hat. Während ich im Kino war, hatte der Filmemacher Klaus Lemke mit seinen Leuten vor dem Berlinale-Palast mit handgemalten „Kosslick weg!“-Plakaten demonstriert und erklärt, dass das Kino keinen Wert mehr habe, „weil es Staatskino geworden ist. Wie bei Adolf Hitler.“ Total durchsubventioniert. Kino müsse von unten kommen und wer Filme mache, solle das eigne Geld riskieren.
Die Aktion ist ganz gut. Ein Typ mit Piratenfahne ist auch dabei. Am Ende ziehen alle die Hosen runter. Natürlich geht es auch darum, den eigenen Film zu propagieren, der nicht auf der Berlinale läuft.