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Der schleichende Tod der Creuse

„Öffentlicher Dienst heißt, dass alle gleichen Zugang dazu haben – auch in dünn besiedelten Gebieten“

aus La Courtine DOROTHEA HAHN

„Achtung, Bahnübergang!“ Das rot-weiße Hinweisschild steht noch am Rand der schmalen Landstraße, die sich durch die Felder schlängelt. Die Schalterhalle im benachbarten Bahnhof dient jetzt als Metzgerei. Der Bürgermeister hat den Umbau aus der Gemeindekasse bezahlt, nachdem die letzte der drei Fleischereien im Ort geschlossen hatte. Auf Bahnsteig eins, unter dem Schriftzug „La Courtine“, flattern Metzgerschürzen auf einer Wäscheleine.

Auf der Strecke von La Courtine an der Südgrenze des Departements Creuse in die nahe Kleinstadt Ussel fährt seit einem Vierteljahrhundert kein Passagierzug mehr. Seit fünf Jahren ist es auch mit dem Güterverkehr vorbei. Die dicken Stämme aus Eichen- und Kastanienholz werden auf Großlastern über Landstraßen zu den Fabriken gebracht. Im selben Jahr wie der Bahnhof schloss auch die Mittelschule. Seither werden die über 11-Jährigen um 6.30 Uhr von einem Schulbus eingesammelt. Am späten Nachmittag kommen sie zurück.

„Ça va?“, ruft der Briefträger aus dem gelben Kastenwagen heraus. Er bleibt in der Kurve zwischen den Wiesen hinter dem Bahnübergang stehen, beginnt einen Plausch mit der Autofahrerin, die ihm entgegenkommt. Seine Tagestour hat er hinter sich. Er hat seine 142 Haushalte besucht, „davon 70 Witwen“. Hat Briefe und Zeitungen ausgeteilt, und Medikamente, die ihm der Apotheker mitgibt. Und Briefe und Bestellungen für die letzten Geschäftsleute in La Courtine mitgenommen.

Für viele Alte ist der Briefträger der einzige Gesprächspartner. Für den Notfall haben die Schwächsten von ihnen noch ein Spezialtelefon, das sie an einer Kette um den Hals tragen. Die Behörden geben es ihnen, damit sie per Knopfdruck die Feuerwehr verständigen können. Aber der Briefträger ist echter. Er weiß, wie die Dinge in den Weilern und Gehöften stehen. Manchmal sorgt er auch dafür, dass Angehörige, die vor Jahrzehnten nach Paris gezogen sind, ganz schnell in die Creuse kommen. Zu einem letzten Besuch.

In vier Jahren geht der Briefträger in Rente. Ob er einen Nachfolger bekommt, steht in den Sternen. Die französische Post soll ihr Personal reduzieren. Soll landesweit 6.000 Ämter schließen und „rationellere“ und „effizientere“ Touren organisieren.

La Courtine mit seinen 1.154 Einwohnern ist ein großer Ort. Das Postamt hat zwei Schalter, eine Glastür mit Lichtschranke und fünf Parkbuchten auf dem Vorplatz. In den Dörfern rundum gibt es dergleichen nicht mehr. Manchmal hat ein Krämer zusätzlich den Postdienst übernommen. An den meisten Orten gibt es auch keine Krämer mehr. Dort organisieren die Bürgermeister für Besorgungen gelegentlich Ausflüge im Kleinbus zum nächsten Marktflecken.

Der Tod des ländlichen Lebens im Département Creuse ist ein schleichender Prozess. Manchmal wird er durch große Ereignisse beschleunigt. Die Abschaffung der Wehrpflicht in Frankreich in den 90er-Jahren war eines davon. Seither hat sich das Militärlager am Rand des Ortes geleert. Außer dem Militärlager hat La Courtine zwei weitere Arbeitgeber: die Möbelfabrik, die im vergangenen Jahr 41 Leute entlassen hat, und das Wohnheim, in dem Behinderte aus Paris untergebracht sind. Das Heim hat La Courtine Jacques Chirac zu verdanken. Der Staatspräsident hat im Nachbardepartement seinen Zweitwohnsitz. Seine Gattin sitzt in Ussel im Gemeinderat.

Die Bürger von La Courtine sind nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber als der Bahnhof und die Mittelschule zumachten, fuhren Eltern und Geschäftsleute aus dem Ort gemeinsam nach Paris, um zu demonstrieren. „Öffentlicher Dienst bedeutet, dass alle Bürger gleichen Zugang dazu haben – auch in dünn besiedelten Regionen“, beschworen sie eines der Grundprinzipien der Republik. Und skandierten: „Égalité“. Sie erreichten nichts.

Ganz anders war die Sache im Jahr 2002, als im Nachbarort Magnat die Grundschule schließen sollte. Da standen die Parlamentswahlen kurz bevor und die Bürgermeister der umliegenden Gemeinden drohten, sie würden die Wahllokale erst gar nicht öffnen. Sie wurden in Paris gehört. Die Grundschule von Magnat gibt es immer noch.

„Die Umstände waren günstig“, sagt Jean-Marc Michelon grinsend. Der 42-jährige Bürgermeister von La Courtine, in Personalunion Präsident des Zusammenschlusses von 13 Gemeinden, fährt im militärgrünen Jeep vor dem Rathaus vor. In seiner Freizeit ist er Jäger. Er kam im Jahr 2001 mit seiner Liste „gemeinsam für La Courtine“ ins Rathaus. Als Amtsnachfolger seines Vaters.

Im vergangenen Jahr war Michelon junior wieder an einer spektakulären Protestaktion beteiligt. Er reichte seinen Rücktritt als Bürgermeister ein – zusammen mit 262 anderen gewählten Politikern des Départements Creuse. Anlass war die Schließung von fünf Außenstellen des Finanzamtes. Der Massenrücktritt sorgte landesweit für Schlagzeilen. Die Außenstellen des Finanzamtes bekamen eine Gnadenfrist. Für ein Jahr.

„Trésor“ steht in weißen Lettern auf dem grünen Schild. Das graue Steinhaus ist 100 Meter vom alten Bahnhof entfernt. Geneviève Leyssen hat 30 Jahre lang in dem ebenerdigen Büro des „Trésor“ gearbeitet, der früher auch als Bank funktionierte. Man kam nicht nur, um die Steuern und das Schulessen für die Kinder zu zahlen und die Jagderlaubnis zu verlängern, sondern auch, um Geld vom Konto abzuheben. Dann klagten private Banken „wegen Verfälschung des Wettbewerbs“. Dann kamen die Schecks. Dann das Internet. Heute erledigen die meisten Bürger von La Courtine ihre Steuerdinge von zu Hause aus. Nur wer kein Bankkonto hat, eine Auskunft braucht oder aus Bedürftigkeit eine Ratenzahlung beantragen muss, findet noch den Weg in das Büro des „Trésor“, wo noch eine Beamtin die Stellung hält.

„Der Kampf endet wegen Mangels an Kämpfern“, stellt Madame Leyssen traurig fest. Seit ihrer Verrentung beobachtet sie das Schrumpfen ihres Geburtsortes aus dem Wohnzimmer. Als die beiden Leyssen-Söhne klein waren, gab es auf der gegenüberliegenden Straßenseite noch einen Konditor, einen Uhrmacher und einen Friseur. Arbeit fanden die Jungen, die beide in den öffentlichen Dienst gegangen sind, in ihrer Region nicht. „Ein Teufelskreis“, sagt die fast 80-jährige Dame, „wenn ein Beamtenpaar geht, bedeutet das auch zwei Kinder weniger in der Schule, geringere Einnahmen für die örtlichen Geschäftsleute und ein leer stehendes Haus mehr. Statt Beamte zu besolden muss der Staat dann irgendwann höhere Beihilfen an die verarmten Bewohner zahlen.“

Immer wenn es gilt, im Département Creuse zu streichen, führt der Amtsweg über Guéret. Mit 15.000 Einwohnern ist das Städtchen der kleinste Präfektursitz Frankreichs. Philippe Chervet hat den Posten vor drei Monaten angetreten. Die Gründe für den kollektiven Rücktritt der örtlichen Politiker versteht er nicht. Von seinem Vorgänger hat er die Zahlen bekommen, die zur Begründung für die Schließung der Außenstellen des „Trésor“ dienten: „maximal 1,6 Operationen pro Tag“. Jetzt soll der neue Präfekt den unterbrochenen Dialog im Département wieder aufnehmen. Zugleich hat er dieselbe undankbare Aufgabe wie sein Vorgänger: Ausgabenkontrolle.

Chervet bestreitet, dass sich der Staat zurückzieht: „Wir wollen nicht weniger, sondern einen besseren Staat.“ Er will die „tatsächlichen Bedürfnisse der Bürger der Creuse“ herausfinden und zugleich das „Syndrom der gekreuzten Arme“ beenden. Der Präfekt hält Menschen für „von Natur aus faul“. Erst recht, wenn sie in Dienststellen sitzen, die nicht ausgelastet sind.

In der Creuse bleiben Präfekten nicht lange im Amt. Die meisten Bewohner des Départements kennen nicht einmal ihre Namen. Wohl aber ihren Auftrag. Dessen Richtigkeit bezweifeln sie. „Unter Rentabilitätsgesichtspunkten muss man hier vieles schließen“, sagt Bernard Bourg, der letzte Apotheker von La Courtine, „aber um langfristig zu leben, brauchen ländliche Orte den politischen Willen.“ Patrick Besse, 35-jähriger Bauer, der auf einem abgelegenen Gehöft hellbraune Limousinenrinder züchtet, und dessen ältester Sohn in La Courtine zur Schule geht, ist „gerne bereit“, sich anzupassen. Zugleich erwartet er, dass seine Republik auch dünn besiedelte und arme ländliche Départements wie die Creuse akzeptiert. Im Augenblick, so Besse, „vergisst man die Menschen“.

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