: Bestand Hans
Die Menschen in der Eisenbahnersiedlung am Nordbahnhof sind verunsichert. Der Cashflow der Patrizia ist ihnen egal, sie wollen leben und atmen. Ein Besuch vor Ort
von Anna Hunger
Hans Georg Wolf ist das, was man wohl „Bestand“ nennt. Er ist 75 Jahre alt, ein kleiner Mann mit freundlichen Augen, einem roten Woll-Pullunder über dem gemütlichen Bauch und ebenso roten Wangen. Wolf sitzt an seinem Schreibtisch in einem kleinen Kabuff in der Goppeltstraße zwischen sanierten Häusern und ein paar Vorgartenwiesen, auf denen er manchmal zu Stadtteilfesten Zelte aufstellt und Würstchen grillt. Links von ihm eine olivgrüne Arbeitslampe, gekauft in der Zeit, als Telefone noch Kabel hatten. Hinter seinem Schreibtisch hat er sich eine kleine Sitzecke gebaut, ein Wagenrad an der Decke und eine Dinkelackeruhr aus einem alten Bierfass an der Wand, daneben ein Regal mit einer Milchkanne aus Blech, dazwischen Plunder und Spinnweben. In diesem Raum sieht es aus wie in einer Mischung aus Gartenlaube, Büro und Stammkneipe.
Wolf ist der Hausmeister in der Stuttgarter Eisenbahnersiedlung am Nordbahnhof. Er heftet „wichtige Informationen“ an schwarze Bretter, tauscht Glühbirnen in Hausfluren aus und wurde mitverkauft, als die LBBW vor zwei Wochen 21.000 Wohnungen in Baden-Württemberg nicht an ein Konsortium um die GWG-Gruppe und die Stadt Stuttgart, sondern wegen eines zu vernachlässigenden Preisunterschieds an die Patrizia AG veräußerte. Darunter auch 4.000 in Stuttgart, 2.000 am Nordbahnhof, dem Viertel von Hans Georg Wolf.
Wolf und Fuchs, da lachen die Männer immer drüber
Pasquale Scazzariello aus der Rosensteinstraße ist zu Besuch im Kabuff, mit geknotetem Schal, auch Ludwig Fuchs von nebenan, er trägt eine saubere blaue Steppjacke und sagt oft: „Wir sind halt verunsichert hier.“ Wolf und Fuchs, haha, da lachen die Männer immer drüber. Es ist Abend, sie trinken Rotwein aus diesen Gläsern, die man irgendwo mitgenommen hat und von denen jedes eine Geschichte erzählt.
Seit dreißig Jahren arbeitet Hans Georg Wolf hier, oder seit vierzig, wo er so drüber spricht, merkt er, dass es wohl doch schon fünfundvierzig Jahre sind. Er hat eine Schlüsselwand, an der hunderte von Haustür-, Dachboden- und Waschküchenschlüsseln hängen, und eine Liste mit allen Mietwohnungen, die er betreut. Manche Zeilen sind mehrfach durchgestrichen, Namen durch andere ersetzt, jahrelang existente Festnetznummern gegen flüchtige Handynummern getauscht. Während die Welt digitalisiert wurde, ist Wolf analog geblieben.
Patrizia komme von Patrizier, sagt Pasquale
Er sei der Psychologe hier, sagt er, der Techniker, das Ordnungsamt, einer, der stolz darauf ist, selbst mit den Jugendlichen gut klarzukommen. Und dabei seien hier so viele Nationalitäten versammelt. Er war der Erste, der sich eine Eigentumswohnung gekauft hat, in diesem Viertel mit seinen Backsteinhäusern und den Hinterhöfen, in denen Hausfrauen karierte Hemden und weiße Feinripp-Schlüpfer auf Wäscheleinen hängen. Er hat miterlebt, wie die Wohnungen von der Eisenbahnsiedlungsgesellschaft an die LEG verkauft wurden, die zur LBBW wurde und nun an die Patrizia Immobilien AG verkauft hat, „eines der führenden vollstufigen Immobilien-Investmenthäuser“, das nach Erfahrungen des Mietervereins in München „als Umwandler und Wohnungsvermarkter“ auftritt, Mieten bis zur Grenze des Erlaubten erhöhe und an der Instandhaltung spare.
Hans Georg Wolf weiß nicht, was er dazu sagen soll. Patrizia, sagt Pasquale Scazzariello mit dem geknoteten Schal, komme von Patrizier, der gesellschaftlichen und politischen Oberschicht im antiken Rom. Hat er irgendwo gelesen.
Es war der größte Immobiliendeal seit der Wirtschaftskrise und ein Riesen-Tohuwabohu. „Heuschrecke“ und „Sozialcharta“ wurden zu Schlagwörtern, Investitionen von 16 Euro pro Jahr und Quadratmeter bietet die Patrizia, das Stuttgarter Konsortium hätte 20 geboten. Mieterschutz und die Erhaltung bezahlbarer Mietwohnungen „wurden dem Profitinteresse der Bank geopfert“, polterte Rolf Gaßmann, der Vorstand des Mieterbundes Baden-Württemberg. Die Entscheidung der LBBW sei „skandalös“ und „unverantwortlich“, treibe 60.000 Mieter in große Unsicherheit. Der Deal sei „vertretbar“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Das Börsenfernsehen kommentierte den Aufruhr mit einem nachsichtigen Lächeln – in Stuttgart müssten soziale Fragen ja sowieso mit ganz besonderer Umsicht behandelt werden.
„Nach Patrizia kommen nur noch die Chinesen“
Die Patrizia ist eine Immobilienfirma, die mit „Rendite“ umgeht, mit „Fonds“ und „Cashflow“, die „Transaktionen“ macht, eine „Investment- und Asset-Management-Firma“, die die Bewohner einer Siedlung als „ihr größtes Kapital“ betrachtet.
Hans Georg Wolf hat keine Ahnung von Asset-Management und Cashflow. Er bekommt seinen „Lohn“ auf sein „Konto“, er ist weniger „Kapital“ als vielmehr „Mensch“, er „lebt“ und „atmet“ und macht seit einigen Jahren jeden Freitag die Kehrwoche für eine Frau, die ein bisschen schneller gealtert ist als er.
„Nach Patrizia kommen nur noch die Chinesen“, sagt Ludwig Fuchs. „Man darf nicht so schlecht reden über die Chinesen, die bringen wenigstens Aufträge für den Daimler“, sagt Wolf, beißt in sein Wurstbrot und erzählt, dass es ihm eigentlich lieber gewesen wäre, wenn die Stadt das Gebiet gekauft hätte. „Da hat man mehr Vertrauen zu“, sagt er. Jetzt bliebe nur noch die Hoffnung, dass die Patrizia mit ihrem freundlichen Namen sich bewusst sei, dass in diesem Renditeobjekt Leute drin leben.
Junge und Alte, die nicht wissen, was passiert
„Angst? Ne, hab ich nicht“, sagt Hans Georg Wolf. Er sei ja von Natur aus Optimist. Aber Respekt hat er. Wenn er in der letzten Zeit seine Runden macht, trifft er viele, die verunsichert sind, erzählt er. Junge und Alte, die nicht wissen, was nun passiert. Nicht, was mit ihren Häusern passiert, nicht, was passiert, wenn das Viertel im Zuge von S 21 saniert wird. Als in der Zeitung stand, dass die LBBW die Wohnungen an Patrizia verkauft, haben manche geweint, sagt er.
Wie Irmgard von nebenan, die sich Sorgen macht, dass sie womöglich mit ihren Gummibäumen und Porzellanpuppen ausziehen muss, weil sie sich die Wohnung nicht mehr leisten kann. Eigentlich könnte sie auch in die Eigentumswohnung des Sohns im Feuerbacher Tal ziehen, aber das ist eben nicht die Goppeltstraße, wo sie ihre Nachbarin Emma sieht, wenn sie aus dem Fenster schaut, und wo die Mieten in dieser überteuerten Landeshauptstadt noch einigermaßen günstig sind. 62 Quadratmeter für 607 Euro kalt.
Die LBBW war auch nicht das Gelbe vom Ei
Die Unsicherheit sei das Schlimmste, sagt Scazzariello. „Wir wissen einfach nichts. Nicht einmal genau, welche Häuser nun verkauft werden und welche nicht.“ Die Patrizia sollte schnellstens ein Mietertreffen machen, damit die Leute die Angst verlieren. Oder mal einen Zettel einwerfen, das hätte im Vorfeld auch die LBBW tun können. „Das wäre wirklich nicht zu viel verlangt.“ Vielleicht, sagt Scazzariello, ziehe er hier sowieso weg. Zurück nach Italien, nach Basilikata, dorthin, wo der Satz „Carpe diem“ erfunden wurde. Ludwig Fuchs sagt wieder: „Wir sind halt verunsichert hier.“ Er geht recht leise, nach Hause zu seiner kranken Frau.
Wenn man es genau nehme, sei die LBBW auch nicht gerade das Gelbe vom Ei gewesen, sagt Hans Georg Wolf und erzählt zur Untermalung die Geschichte von seinem Faxgerät. Das hat er vor Jahren extra für sein Kabuff gekauft. Seitdem steht es da unter einer blauen Abdeckfolie. Die Telekom habe zwar die Kabel verlegt und ihm extra eine Steckdose gebaut, aber einstecken könne er es nicht, weil die Leitung nicht angeschlossen sei. Die LBBW, und darüber kann sich dieser freundliche Mann wirklich aufregen, habe es nicht mal geschafft, ihm die zwei fehlenden Drähte verlegen zu lassen, damit er sein Gerät anschließen kann. Also geht er weiterhin zum Nachbarn, wenn er ein Fax versenden will. Man hilft sich hier halt. Auch noch, wenn die Patrizia kommt, hofft er. „Da gibt es ja diesen Spruch“, sagt Wolf. „Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Den gibt es schon so lange, da wird schon was dran sein.“ Man müsse halt mal abwarten. „Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm“, sagt er. Vielleicht schließt ihm die Patrizia ja endlich sein Faxgerät an.