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Archiv-Artikel

Das dunkle Tal seiner Kindheit

TABU Bis in die siebziger Jahre schickte der Schweizer Staat Kleinkinder auf Bauernhöfe, wo sie schuften mussten und gequält wurden. Mit ihren traumatischen Erfahrungen kämpfen viele ehemalige Verdingkinder bis heute. Auch Peter Weber

Verdingkinder in der Schweiz

■ Die Praxis: Hunderttausende Waisen und Scheidungskinder, uneheliche und sogenannte milieugeschädigte Kinder sind bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz verdingt worden, wie Historiker schätzen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sie wie Vieh auf Verdingmärkten versteigert. Später wurden sie von der Armenbehörde offiziell als Pflegekinder auf Bauernhöfe gebracht.

■ Das Ende: Es gab fast keine staatliche Kontrolle, viele Verdingkinder wurden misshandelt und missbraucht. Erst 1978 wurde das Verdingkinderwesen mit einem nationalen Gesetz endgültig abgeschafft. Heute leben noch etwa zwanzigtausend ehemalige Verdingkinder. Jahrelang war das Thema in der Öffentlichkeit tabuisiert. Seit einigen Jahren wird es wissenschaftlich aufgearbeitet.

■ Die Aufarbeitung: Mittlerweile haben sich mehrere Kantone für die amtlichen Verfehlungen entschuldigt. Der Kinofim „Der Verdingbub“ und die Wanderausstellung „Verdingkinder reden“ beschäftigen sich mit dem Thema. „Verdingkinder reden“ ist noch bis zum 1. April 2012 im Schulhaus Kern in Zürich zu sehen. Vom 19. April bis zum 19. August gastiert sie im Musée d’art et d’histoire Fribourg und von Ende Oktober 2012 bis Ende März 2013 im Historischen Museum in St. Gallen. Im Zentrum der Ausstellung stehen Hördokumente von Betroffenen, ausgewählt aus Interviews, die in zwei Forschungsprojekte in der französischsprachigen Schweiz und in der Deutschschweiz aufgenommen worden sind.

Mehr Informationen gibt es unter: www.verdingkinderreden.ch

AUS BASEL UND DEM EMMENTAL PAULA SCHEIDT (TEXT) UND STEFAN PANGRITZ (FOTOS)

Halt’s Maul, du lügst, so etwas hat es nie gegeben. Ein paar solcher Sätze ließ er sich damals vor zwanzig Jahren gefallen, von Vorgesetzten, von Bekannten, sogar von Verwandten, dann beschloss er, wieder zu schweigen wie all die Jahre vorher und viele Jahre nachher über das, was tief im schweizerischen Emmental passiert war, dort, wo das Tal eng ist und die Höfe arm sind.

Heute lebt Peter Weber in einem Hochhaus im 9. Stock. Immer wenn er einen Freund im 13. Stock besucht, wird er etwas neidisch, dort ist die Aussicht noch besser. Durch das Panoramafenster seines Wohnzimmers überblickt er ganz Basel. Unten rauscht die Autobahn Richtung Deutschland, daneben auf den Schienen fahren die ICEs nach Amsterdam, Paris, Prag. Als die Lokführer streikten, konnte er nachts nicht schlafen, er vermisste den Lärm der Züge. Überall sind Menschen. Wenn er schreien würde, es würde ihn jemand hören.

Peter Weber wollte irgendwann einen Beweis haben. Einen Beweis dafür, dass er nicht spinnt. Dass er sich das alles nicht eingebildet hat. Es musste Akten geben. In Basel und Rorschach sagte man ihm, die seien vernichtet worden. Weber kann das nicht so richtig glauben. Als er nach Rorschach fuhr, wo er Beweise vermutete, drohte ihm der Beamte von der Vormundschaftsbehörde. Er solle sich schleunigst vom Acker machen, sonst hole er die Polizei! Zehn Jahre ist das jetzt her.

Heute braucht er keine Beweise mehr.

Vor Kurzem war die britische BBC bei ihm zu Hause, hat Fotos gemacht, gefilmt, Fragen gestellt. Immer mehr Menschen interessieren sich nun für seine Kindheit.

Im Briefwechsel von 1959: die „Haltebewilligung“

Dass in der reichen Schweiz, einem Land mitten in Europa, bis in die siebziger Jahre hinein ganz offiziell Kinder versklavt wurden: Er will, dass möglichst viele davon erfahren. Er hilft, die Geschichte eines Landes aufzuarbeiten. Und gibt seinem eigenen verpfuschten Leben Sinn.

Morgens um halb sieben führt Peter Weber Rambo aus, dann noch einmal am Abend, oft hütet er Nachbarshunde. Aber das Laufen strengt ihn an. Er ist jetzt 56 Jahre alt, leidet an Diabetes und einer Nervenkrankheit, hatte schon zwei Herzinfarkte. Seine Stelle als Altenpfleger musste er vor zwölf Jahren aufgeben, sein Körper machte nicht mehr mit. Oft lädt er Freunde zum Abendessen ein, dann kauft er beim Metzger einen Braten, den er mehrere Stunden im Ofen schmoren lässt. Dazu gibt es Rübli, Lauch, Sellerie und selbst gestampften Kartoffelbrei. „Kochen und mit den Hunden sein, das sind die zwei Dinge, die ich kann“, sagt Peter Weber.

Die Nachmittage verbringt er meist zu Hause, raucht eine Zigarette nach der anderen, trinkt zu viel Kaffee. Er sitzt in seinem Sessel am Fenster, und wenn er zu erzählen beginnt, dann zerbricht die Gelassenheit gegenüber seinem Schicksal, die er sich mühsam erarbeitet hat, nach wenigen Sätzen. Seine Stimme wird laut, und seine Schultern verkrampfen sich. In seinem Gesicht wüten all die schmerzhaften Gefühle, die er noch immer nicht hat ordnen können. Alles ist noch da, als wäre es gestern gewesen.

Von den vielen Höfen im Emmental war der, der hier Tannegg heißen soll, weil Peter Weber das so will, in den sechziger Jahren der kleinste und ärmste. Es gab keine einzige landwirtschaftliche Maschine. Das Heu wurde in Seile geschlagen und auf dem Rücken heimgetragen. Es gab drei Kühe, zwei Kälber, ein paar Hühner und einen Hund. Jedes Kind besaß nur eine Hose, Unterhosen bekam man erst zur Einschulung. Das Geld war knapp. Milch, Eier, Getreide, alles, was der Hof abwarf, verbrauchte die Familie selbst, zum Verkaufen blieb nichts übrig. Ohne das Geld für die beiden Verdingkinder könnten sie nicht überleben, sagte der Bauer abends bei Tisch.

Die beiden Verdingkinder waren Peter Weber und seine Schwester, er vier Jahre alt, sie eineinhalb. Bis in die siebziger Jahre nahmen die schweizerischen Armen- und Vormundschaftsbehörden Kinder ihren Familien weg und schickten sie auf fremde Bauernhöfe. Weil die Eltern arm waren oder man ihnen die Erziehung nicht zutraute. Von den Jungen und Mädchen wurde erwartet, dass sie sich ihr Leben selbst verdingen.

Warum Peter und seine jüngere Schwester nicht bei ihrer Mutter aufwachsen konnten, ist unklar. Peter Weber hat heute nur wenig Kontakt zu ihr. Wenn er fragt, sagt sie, die Kinder seien ihr weggenommen worden – und er glaubt ihr. Das einzige offizielle Dokument, das Peter Weber bis heute erhalten hat, ist ein zweiseitiger Briefwechsel von 1959 zur „Haltebewilligung“. Daraus geht hervor, dass die Bauernfamilie die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllte, um die Kinder aufzunehmen. Weil die beiden aber bereits auf dem Hof waren, wurde die Platzierung nachträglich bewilligt.

Von den neun eigenen Kindern der Bauernfamilie waren nur noch die beiden Jüngsten auf dem Hof. Es fehlte an Arbeitskräften. Mit vier Jahren schälte Peter Weber Kartoffeln, rieb sie auf einer Röstireibe und verfütterte sie an die Hühner, er half bei der Getreideernte und schleppte Brennholz. Als er mit sechs Jahren eingeschult wurde, mähte er morgens vor Schulbeginn mit der Sense das Gras, fütterte und melkte die Kühe, ging in die Schule und danach direkt wieder in den Stall. Mit zwölf führte er allein den Bauernhof, sagt er. Er arbeitete gern, sehr gern sogar. Die Arbeit lenkte ihn ab von den körperlichen und psychischen Quälereien.

Kurz nach seiner Ankunft auf dem Hof wurde er zum ersten Mal grün und blau geschlagen. Ein älterer Bauernsohn war zu Besuch, seine Frau hatte gerade ein Kind geboren. „Der Sauhund will jetzt schon auf Frauen los!“, rief der Bauer, als der Vierjährige in das Zimmer lief, in dem die Mutter ihr Neugeborenes stillte.

Wenn jemand schlechte Laune hatte, dann klatschte er ihm eine. Das macht dem nichts, hieß es, der ist dem Teufel vom Wagen gefallen.

Am Boden: Tritte in die Eier, immer wieder

Was die Erwachsenen vormachten, das machten die Kinder nach. Als Peter Weber einmal eine Schubkarre zu früh in die Kurve zog, sodass sie zur Seite kippte und das Getreide in den Graben fiel, wurde die Bauerntochter wütend, warf ihn zu Boden und trat ihm in die Eier, immer wieder.

Bis heute plagen ihn Hodenschmerzen, aber den Vorwurf macht er nicht der Bauerntochter und auch nicht den Eltern. Den Vorwurf macht er der staatlichen Behörde, die ihn auf diesen Hof gebracht hat.

Ein- bis zweimal in der Woche wurde er ins Dorf geschickt, um Salz oder Milchpulver für die Kälber zu holen, zu Fuß brauchte man eine Stunde. In Langnau wohnte sein leiblicher Großonkel, ein Tagelöhner, im Ort bekannt als pädophil. Er kannte den Weg, den der Junge entlangging, und lauerte ihm auf. Jeder im Dorf habe von dem Missbrauch gewusst, sagt Weber, aber niemand sagte etwas. Und auf Tannegg hieß es: „Das ist widerlich, schweig darüber, sonst schlagen wir dich tot und vergraben dich im Wald. Dich sucht eh niemand.“

2004 traf Peter Weber zum ersten Mal andere ehemalige Verdingkinder. Obwohl er wusste, dass es noch mehr geben musste, war er im Emmental und auch später in Basel nie einem begegnet. Nun aber hatten Historiker der Universität Basel begonnen, dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte systematisch zu erforschen. Zuerst fehlten Zeitzeugen, und das öffentliche Interesse war gering. Nun, im Jahr 2004, riefen die Wissenschaftler in einer Fernsehsendung Betroffene dazu auf, sich zu melden. Die Telefonzentrale des Schweizer Fernsehens brach zusammen, so viele Anrufe gingen ein. „Viele Betroffene brauchten wohl erst Abstand, um darüber sprechen zu können“, sagt der Historiker Marco Leuenberger. Er schätzt, dass heute noch zehntausende ehemalige Verdingkinder leben. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts müssen es hunderttausende gewesen sein. Belastbare Zahlen gibt es nicht, viele Akten sind vernichtet worden oder aus Datenschutzgründen nicht zugänglich.

Leuenberger und seine Kollegen haben in den letzten Jahren 250 ehemalige Verdingkinder interviewt, darunter auch Peter Weber. „Es ist schwierig zu definieren, was genau ein Verdingkind ist“, sagt Leuenberger. „Offiziell hießen viele Pflegekinder. Rückblickend sind für uns diejenigen Verdingkinder, die hart arbeiten mussten und sehr schlecht behandelt worden sind.“ Für den Staat war das Verdingkinderwesen eine günstigere Lösung als Kinderheime oder Pflegefamilien in der Stadt. Und für die Bauernfamilien waren sie ein guter Deal: Sie erhielten eine zusätzliche Arbeitskraft und bekamen von den Behörden sogar Geld dafür.

Peter Weber ist mit seinen 56 Jahren einer der Jüngsten noch Lebenden. Es gibt auch Verdingkinder, denen es in der Bauernfamilie besser ging als in der eigenen. Nicht für alle war die Kindheit ein Albtraum, aber für viel zu viele.

Mit neun aß Peter Weber zum ersten Mal Seife. Er fühlte sich ein paar Tage lang elend, und danach ging das Leben, das er hatte beenden wollen, weiter.

Beim Abendessen auf Tannegg schöpften sich alle Familienmitglieder das Essen selbst, nur nicht das Verdingkind. Für alle gab es Fleisch, nur nicht für ihn. Verdingkinder werden blöd vom Fleisch, hieß es. Die Bauernkinder durften jeden Montag im Radio Musik hören, dem Verdingkind würde so etwas den Charakter verderben.

Wie Freiheit sich anfühlt, erfuhr Peter Weber erst im Alter von 17 Jahren. In Basel, in der Großstadt. Er war abgehauen aus dem Emmental, einfach weggelaufen, genau wie seine Schwester schon vor Jahren. Verdingkinder wurden nicht gesucht. Nicht von der Familie und auch von keiner Behörde. In Basel ließ er sich die Haare wachsen. Trat in die Revolutionäre Marxistische Liga ein. Kaufte sich ein Mofa, fand Freunde. Mit dem Geld, das er als Hilfspfleger im Krankenhaus verdiente, war er auf einmal selbstständig. „Das war eine schöne Zeit“, sagt er, und für einen Moment verschwindet die Bitterkeit aus seiner Stimme. Er ging das erste Mal ins Kino. Das erste Mal zur Kirmes. Noch nie zuvor hatte er einen Autoskooter gesehen.

Als er mit 20 heiratete, merkte seine Frau schnell, dass körperliche Nähe ihm fremd war. Noch heute zuckt Peter Weber zusammen, wenn eine Hand seinem Kopf zu nahe kommt, denn das bedeutet Schläge. Seinen beiden Kindern wollte Peter Weber alles ermöglichen, was ihm selbst verwehrt geblieben war: Aufmerksamkeit, eine gute Ausbildung, Freizeit, Ferien. „Ich habe es einfach nicht geschafft, ihnen Grenzen zu setzen“, sagt er. Heute sieht er sie nur noch selten, das Verhältnis ist schwierig. Auch die Ehe zerbrach. Weil er alles geben wollte und sich nicht traute, dafür auch etwas zu fordern. Weil er nicht gelernt hatte, wie bedingungslose Zuneigung sich anfühlt. „Ich habe alles versucht, um eine eigene, glückliche Familie zu haben. Ich bin glorios gescheitert.“ Die Vergangenheit ließ sich einfach nicht abschütteln – auch nicht mithilfe eines professionellen Therapeuten. Nach einem halben Jahr beendete er die Behandlung.

Auf Tannegg konnte er keinem trauen. Freundliche Worte entpuppten sich als Lügen, verlockende Angebote als Fallen. Sein bester und einziger Freund war das Netteli. Der Hofhund. Oft liefen sie gemeinsam weg von Tannegg, in den Wald, für ein paar Stunden, manchmal auch für Wochen.

Gemeinsam erkundeten sie den Wasserfall, die hohen Felsen. Sie sahen Rehe und Hasen, beobachteten Gämse. Abends trug Peter Weber Laub in eine Erdhöhle, und sie legten sich nebeneinander darauf schlafen. Sie stiegen in fremde Keller ein und holten sich Speck oder Kartoffeln. Niemand suchte ihn, niemand vermisste ihn.

Wenn er zurückkam, gab es Schläge.

Wenn im Dorf jemand nach ihm fragte, hieß es: „Nein, nein, um Gottes willen, der gehört nicht zu uns!“

Einzig der ältere Bauernsohn behandelte ihn wie einen Bruder, wenn er sonntags zu Besuch kam. Aber er blieb nie länger als zwei Tage. Er brachte ihm das Bergsteigen und das Skifahren bei. Und einmal saß er in der Küche und sagte: „Wenn ihr den Peter jetzt nicht in Ruhe lasst, dann bekommt er einen psychischen Schaden.“

Wenn das Fräulein kam: das Sonntagsgewand

Ein paar Mal kam eine Frau vom Fürsorgeamt zu Besuch. Sie meldete sich vorher an. Dann wurde er ins Sonntagsgewand gesteckt und es hieß: Sag ja nichts, sonst ab in den Wald mit dir. Keine Minute wurde er mit dem Fräulein allein gelassen.

Eines Tages, mit sieben, durfte er plötzlich doch Fleisch essen. Berge von Fleisch. So viel, wie er noch nie gesehen hatte. Und als der Teller leer war, hieß es: Und, hat’s geschmeckt? Jetzt hast du gerade dein Netteli aufgefressen. So lieb kannst du es also nicht gehabt haben.

Er erzählt. Seine Stimme wird laut und seine Schultern verkrampfen sich. Es ist, als wäre es gestern gewesen

Einige der ehemaligen Verdingkinder, die sich 2004 auf den Aufruf des Schweizer Fernsehens hin meldeten, organisierten ein Treffen in Zürich, zu der mehr als 200 ehemalige Verdingkinder aus der ganzen Schweiz anreisten. Auch Peter Weber fuhr hin. Es wurde ein Verein gegründet, sie trafen sich einige Male. Aber bald kam es zu Meinungsverschiedenheiten.

Lasst doch die Vergangenheit endlich ruhen, fanden die einen. Die anderen forderten Entschuldigungen und Entschädigungen. Peter Weber fand das übertrieben. „Es kann doch nicht darum gehen, unser Leid mit Geld auszugleichen.“ Es gab Streit. Im Februar 2007 wurde der Verein aufgelöst. Jeder hat zu schwer an seinem eigenen Schicksal zu tragen, um auch noch das der anderen auszuhalten.

Durch den Austausch kam alles wieder hoch, und Peter Weber wollte nur weg, möglichst weit. Er kündigte seine Wohnung und flog nach Spanien zu Bekannten. Die Finca war auf keiner Karte verzeichnet und hatte nicht einmal einen Briefkasten. Er baute Trauben an, Avocados, Orangen. Er backte Brot und verkaufte es auf dem Markt. Er lernte ein paar Brocken Spanisch und verständigte sich mit Händen und Füßen.

Eines Tages lief ihm ein Hund zu, er wog nur zehn Kilo, sein kupferfarbenes Fell war dreckig und verlaust. Peter Weber stellte ihm Futter hin, ließ ihn impfen und nannte ihn Rambo, weil er ständig aufs Bett sprang und die Kissen durch die ganze Wohnung trug. Als ihm nach zwei Jahren auf der Finca das Wetter auf die Nerven ging, „jeden Tag blauer Himmel, keine einzige Wolke, die du beobachten kannst“, packte er wieder den Koffer und buchte den Rückflug nach Basel. Rambo nahm er mit. Seitdem sind sie immer zusammen. Rambo bekommt jede Woche ein Bioei und nur Futter ohne künstliche Zusatzstoffe. Heute wiegt er zwanzig Kilo. Fast alle seine Freunde hat Peter Weber über Rambo kennengelernt. Im Handy speichert er hinter jedem Namen noch den Namen des dazugehörenden Hundes. Wenn sie gemeinsam am Fluss spazieren gehen, erzählt er in letzter Zeit öfter von früher. Seit er gemerkt hat, dass seine Freunde nachfragen.

Vor einem Jahr wurden Peter Weber und andere ehemalige Verdingkinder nach Bern eingeladen. Es gab ein großes Büfett, teuren Wein, und die Politiker des Kantons Bern, zu dem auch das Emmental gehört, entschuldigten sich für das, was vorgefallen ist. „Da haben sie sich wirklich große Mühe gegeben“, sagt Peter Weber.

Inzwischen gibt es in der Schweiz eine Wanderausstellung zum Thema und einen Spielfilm. Mehrere Kantone haben den Betroffenen offiziell ihr Bedauern ausgesprochen, letzten Sommer hat die Regierung eine nationale Entschuldigung angekündigt, die nun erwartet wird. Eine solche Entschuldigung könnte Entschädigungsklagen nach sich ziehen. Das Thema ist in der Öffentlichkeit angekommen, in den Medien, im Kino, in der Politik. Aber ob es auch die abgelegenen Täler erreicht, in denen viele Verdingkinder aufwuchsen?

Der Tag, an dem Peter Weber aufbricht, um seiner Vergangenheit in die Augen zu sehen, ist ein heißer Augusttag im vergangenen Sommer. Er setzt sich den Hut auf, packt Rambo in den Kofferraum und holt seine Freunde zu Hause ab.

Endlich will er ihnen zeigen, wo er aufgewachsen ist. Sie haben ein Picknick vorbereitet und fahren mit dem Auto ins Emmental. Linda, Magda, Marc und er. Er hat sich auf den Ausflug gefreut. Aber als sie in Langnau eine alte Wirtin fragen, ob die Straße zum Hof Tannegg offen sei, wundert die sich, was er dort wolle. „Ich bin dort aufgewachsen, als Verdingkind“, sagt er.

Da wird die Wirtin unfreundlich, er solle verschwinden, so etwas habe es hier nicht gegeben! Sie fahren trotzdem die Straße hoch. Man kann den Hof kaum sehen, so groß sind die Fichten geworden. Vor fünfzig Jahren hat er sie selbst gepflanzt. Eigentlich hat er hingehen wollen zum Hof, Hallo sagen, der jüngste Sohn führt ihn heute. Peter Weber ist ja nicht allein, sein Freund Marc ist dabei, kräftig, fast zwei Meter groß. Aber die Angst ist plötzlich zu groß, die Erinnerungen sind zu mächtig.

Seither macht er einen weiten Bogen um den Hof. Nicht einmal zu Hause in Basel fühlt er sich absolut sicher. Nachdem die BBC über ihn berichtet hatte, bekam er einen Anruf aus Langnau, er solle bloß aufhören, im Dreck zu wühlen. Seitdem schließt er nachts die Wohnungstür ab. Wenn er sich doch ins Emmental traut, dann nur auf einen der Bergrücken. Da steht er dann und schaut hinunter nach Langnau, das gemessen an der Einwohnerzahl inzwischen eine Stadt ist – aber lieber ein Dorf bleiben möchte. Das schöne Dorf im Emmental. Der Hof Tannegg ist von hier oben nicht zu sehen. Alte, windschiefe Höfe ducken sich an die Hügel, unter Dächern, die fast bis zum Boden reichen, unverändert seit Jahrhunderten. Schnee liegt auf den Wiesen.

Er kennt hier jeden Weiler. Der Himmel ist klar, die Sicht frei auf die Berner Alpen, Eiger, Mönch und Jungfrau. „Die Landschaft ist wunderschön hier“, sagt Peter Weber.

Die Landschaft.

Paula Scheidt, 29, ist freie Journalistin in Zürich. Die Recherche hat ihr schlaflose Nächte bereitet

Stefan Pangritz, 51, freier Fotograf in Freiburg, sieht die Alpen-Idylle nun mit anderen Augen