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Archiv-Artikel

Die Stelen als Spiegel

Aneignung und Lärm: Wie viel Offenheit verträgt das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas? Wie wir mit ihm umgehen werden, wird viel über unser Verhältnis zu Vergangenheit aussagen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

„Warst du schon am Denkmal?“ und „Stört dich nicht der Lärm?“. Die Fragen erreichen einen schon, bevor man den Ort überhaupt selbst gesehen hat. Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin übt wenige Tage nach seiner Eröffnung eine starke Anziehungskraft aus, die mit sehr gemischten Gefühlen beobachtet wird. Je größer die Gruppen der Besucher, desto schneller beginnt das Spiel vom Verstecken, manche springen auf den Stelen herum oder picknicken. Das ist zwar nicht erlaubt, aber möglich, und die beiden Sicherheitskräfte vor Ort sind oft langsamer als die Besucher.

Die Angst vor dem Urin

In der Angst, die jetzt laut wird, spielt die Besorgnis eine große Rolle, dass im weiten Skulpturenfeld zwischen den Stelen die Bestimmung als Denkmal verloren geht. Furchtbar ist etwa der Gedanke, dass die vielen Ecken und Winkel vielleicht als Pissoir missbraucht werden könnten. Groß ist aber auch die Erleichterung unter den Erbauern darüber, wie sich mit Besuchergruppen und Familien das Leben in die vielen „Straßen“ zwischen die grauen Stelen ergießt. Der Wunsch, dies als Zeichen für die Akzeptanz des Mahnmals und die Annahme des Ortes als Teil des öffentlichen Leben zu bewerten, überwiegt bei den Trägern der Stiftung. Denn der Ruf nach Kontrolle, nach mehr Sicherheitskräften als den beiden Wachmännern und nach eingeschränktem Zugang wäre immer zugleich ein Eingeständnis des Versagens; nicht nur des offenen Konzepts des Denkmals und der Intention der Denkmalstiftung, sondern vor allem auch des Anspruchs an den Respekt, den eine demokratische Öffentlichkeit an sich selbst stellen muss.

In der langen Zeit der Diskussion, die der Erbauung des Denkmals vorausging, gab es unter seinen Gegnern ebenso wie unter den Befürwortern ein befürchtetes Szenario: dass dieser Ort nur Befangenheit auslösen könnte, dass er mehr ritualisierten Gesten eines zur Schau gestellten Geschichtsbewusstseins als einem wirklichem Nachdenken über Geschichte dienen würde, dass er mehr aus moralischem Pflichtgefühl denn aus dem eigenem Bedürfnis heraus besucht würde. Der Entwurf von Peter Eisenman und das Konzept der Stiftung haben gerade mit der topografischen und symbolischen Offenheit des Stelenfeldes versucht, das zu verhindern. Und es ist auch gelungen, den Ort sowohl von räumlichen Barrieren wie von aufdringlichen Gesten frei zu halten. Gerade in seiner Durchlässigkeit liegt auch seine Stärke. Und die Hoffnung der Stiftung ist auch, dass es sich durch seine Offenheit selber schützt.

Der städtische Raum hat gewonnen. Zwischen Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Reichstag und Tiergarten sind immer viele Berlinbesucher unterwegs, und sie kommen zum Denkmal in der normalen Touristenausrüstung, praktisch und mental. Wie soll man ihnen da die Verfasstheit des Gedankens gleich bei den ersten Schritten abverlangen. Sie stellt sich erst mit der Zeit ein, manchmal auch erst im Nachhinein oder gar nicht und bestimmt auch immer von dem, was man an Wissen oder Wissenwollen über die Verbrechen des Nationalsozialismus mitbringt. Der so genannte Ort der Information ist deshalb ein Angebot – die Besucher aber, wie jetzt sowohl Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin, als auch sein Vorgänger Eberhard Diepgen laut überlegten, zuerst durch die Ausstellung zu schleusen, um sie sozusagen nur in korrekter Gedenkhaltung in das Denkmal zu lassen, ist absurd und macht das Konzept der Offenheit wieder zunichte.

Die Juden als Experten

Natürlich gehören Vertreter der Jüdischen Gemeinde oder des Zentralrats der Juden zu den kritischsten Beobachtern der Aneignung des Denkmals. Ihnen jetzt aber, wie in vielen Anfragen von Journalisten geschehen, die Rolle zuzuteilen, für den richtigen oder falschen Gebrauch des Denkmals Regeln aufzustellen oder Noten zu verteilen, ist wieder eine merkwürdige Verschiebung der Perspektive. Sie sind nicht zuständig für die Form der Erinnerung, die das Deutschland von heute für seine Geschichte findet. Ihre Kompetenz immer gerade dann zu befragen, wenn die Öffentlichkeit ein Problem mit ihrem eigenen Benehmen und Verhalten befürchtet, ist auch eine Zumutung.

Das Stelenfeld ist ein sensibler Raum. Das Denkmal selbst erzählt nichts über die Geschichte, aber wie die Besucher mit ihm umgehen werden, wird viel über das gesuchte Verhältnis zu Vergangenheit aussagen. Wer sich dessen bewusst ist, ist auch mit der Beobachtung von sich und den anderen beschäftigt, und dass darüber auch ein Gefühl der Verantwortung für den Ort entsteht, ist eine berechtigte Hoffnung.