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Ausgehen und rumstehen von Stephanie GrimmWas die können, kann ich auch – Chronik des letzten Schwumms

Kurz vor der Pandemie, vor einer halben Ewigkeit also, geriet ich zufällig in Taylor Macs 24-Stunden-Performance „24-Decade History of Popular Music“, einer alternativer Gesellschaftsgeschichte der USA aus queerer Perspektive. Ich war damals gerade in der Nähe, als ein Bekannter am letzten von vier Abenden – das Marathon-Stück des New Yorker Performancekünstlers war für die hiesige Ausgabe geviertelt worden – schwächelte. Er gab mir sein Bändchen, ich schlüpfte rein und landete inmitten einer durchgeschwitzten und euphorisierten Crowd – eine flirrender Abend. Kurze Zeit später, als ich meist allein zu Hause herumsaß, musste ich oft daran denken. Selten hatte man mit so vielen Fremden derart gekuschelt wie bei diesem wilden Ritt.

Vergangenen Mittwoch eröffnete die Performing Arts Season der Berliner Festspiele wieder Taylor Mac: „Bark of Millions“. 55 Songs, dem Thema Paraden gewidmet: Ein Lied für jedes Jahr seit dem ersten Pride March. Macs Absicht, so erklärt er vorab: „Make straight people queer and queer people queerer.“ Na denn, viel Glück. Mit den klassischen Theatergänger:Innen, die zum Saisonauftakt auch am Start in den heiligen Hallen der Festspiele sind – neben der stets loyalen LGBTI-Community. Auch diesmal gibt es viel zu gucken: allein die Kostüme des gut 20-köpfigen Ensembles. Die an die Wand projizierten Songtexte scheinen so dicht, dass man nur manchmal folgen kann. Musikalisch steckt so ziemlich alles drin, was der US-Kanon bereithält: Musical, Dixieland, Rock.

Ermüdungserscheinungen gibt es dann aber doch, schon nach anderthalb von vier Stunden. Im Kino wäre man jetzt auf der Zielgeraden. Der Spannungsbogen leidet etwas an der Abwesenheit eines Plots. Das geht offenbar nicht nur uns so. Binnen Minuten wächst die Schlange an der Bar von drei auf fünfzig Meter an. Plötzlich werden auch noch Pizzen bestellt, auf die wir dann warten müssen. Wir bleiben ewig draußen hängen. Was aber auch ganz lustig ist. Als ich für die letzte Stunde wieder reingehe, ist die Atmosphäre eine ziemlich andere; Macs Mission scheint zumindest teilweise accomplished. Die beiden Fraktionen, Szene-People und Anzugträger, schunkeln gleichermaßen beseelt.

Für noch größere Euphorie sorgt bei mir aber am Samstag der vielleicht letzte Schwumm (das sagt man in der Schweiz, hab ich kürzlich gelernt; dieses schöne Wort darf sich ruhig mal bei uns durchsetzen) dieser Saison in einem See. Der Besuch hatte sich einen Besuch der Papageiensiedlung in Zehlendorf gewünscht. Daraus wird ein hübscher Herbstspaziergang. Nach einer Runde durch die bunte Bauhaus-inspirierten Siedlung wollen wir noch die Krumme Lanke umkreisen. Und in der sind dann tatsächlich noch ein paar Schwim­me­r:in­nen unterwegs.

Hey, was die können, will ich auch! Das Wasser erweist sich dann auch als gar nicht so kalt. Weiß man ja eigentlich und vergisst es doch immer wieder. Es ist toll! Hoffentlich wird der Oktober noch ein bisschen golden. Passende Lichtverhältnisse sind bei der Überwindung die halbe Miete.

Taylor Macs queere Songrevue „Bark of Millions“ leidet etwas an der Abwesenheit eines Plots. Binnen Minuten wächst die Schlange vor der Bar

Am Abend stellt dann Bela Fast alias fastmusic sein Albumdebüt „I want to love, and I love“ in der Galiläakirche vor. Etliche im Publikum haben darauf offenbar so lang gewartet wie ich – seit dem Winterabend vor anderthalb Jahren, als der Leipziger mit zwei Mit­mu­si­ke­r:in­nen erstmals im Monarch auftrat und gleich für Verzückung sorgte. Heute wirkt Fast wieder so schüchtern und fragil und füllt den Raum trotzdem. Was für ein minimalistischer, herzerwärmender Abend! Allerdings ist es arg kühl in der ungeheizten Kirche, frischer fast als im See. Ganz ohne Adrenalin friert sich’s eben leicht. Und dennoch: Dieses Album wird mich über den anstehenden Winter bringen.

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