: DVDESKMaßloser Traum von Freiheit
Zwei Aufziehpuppen, die sich aber selbst aufgezogen haben und nun einen ganzen Film lang nicht mehr zu stoppen sind: Das sind Marie (blond: Ivana Karbanová) und Marie (brünett: Jitka Cerhová). Am Anfang von Vera Chytilovas Film „Tausendschönchen“ sitzen sie, und man hört, als wären sie schlecht geölte Automaten, knarzende Geräusche bei jeder Bewegung. Dann aber geht es los. Dann rennen sie und fallen sie und wanken sie und liegen sie und stehen sie wieder auf. Keine Bewegungsform ist ihnen fremd: Unbändig ist die Energie, die sie auf den Film als ganzen übertragen. Oder vielleicht ist es auch der Film selbst, der seine Energie auf sie überträgt.
Vera Chytilová hat ihn 1966 gedreht, eine der Protagonistinnen der neuen Welle des tschechoslowakischen Kinos der Sechziger Jahre. Aufs Äußerste experimentierwütig ist dieses sofort höchst umstrittene Werk: 21 Parlamentsabgeordnete unterschrieben eine Eingabe, in der sie das Verbot dieses ihrer Ansicht nach zutiefst unsozialistischen Films forderten. Sie hatten ja recht: „Tausendschönchen“ ist ein antisozialistischer, aber auch ein antikapitalistischer Film. Ist Slapstick gekreuzt mit Godard. Ist ein maßloser Traum von der Freiheit, die darin besteht, keine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Die beiden Maries beschließen zu Beginn ganz ausdrücklich: Wir sind jetzt einfach mal so schlecht wie der Rest und tun, widde widde witt, was uns gefällt. (Pippi Langstrumpf ist eine nahe Verwandte.)
Und so bringen sie, von einem Non-Sequitur in den anderen Fehlschluss stürzend, die Verhältnisse wieder und wieder zum Tanzen. Indem sie der Völlerei frönen und sich von älteren Sugardaddys aushalten lassen, die erst, wenn der Zug abgefahren ist, begreifen, wie ihnen geschieht. Ein anderer Mann, er sitzt am Klavier, verzehrt sich, vergeblich, nach Marie, die ihre Blößen mit gerahmten Exemplaren seiner Schmetterlingssammlung bedeckt. Oder, an anderer Stelle: Die beiden sitzen in einer Loge im Tanzvarieté. Sie betrinken sich, sie hampeln und wanken und stürzen die ganze Veranstaltung in Aufruhr. Wie ein losgelassenes Unbewusstes schaffen Marie und Marie, wo sie gehen und stehen, nur Chaos. Das macht sie unwiderstehlich. Und unausstehlich macht es sie auch.
Vom Schwarzweißen ins Bunte und wieder zurück fallen die beiden von Schnitt zu Schnitt. Sie tauchen ins Wasser, sie landen in einer Wiese, sie beißen in saftige Äpfel, sie winden sich Kränze, sie liegen im Gras und auf Betten herum. Und Chytilová ihrerseits überlässt auch sich und das filmische Material ihren und seinen Lüsten und Launen. Aus einer Zugfahrt macht sie eine flitzende Lichtspuranimation. Sie lässt das Bild in seine kleinsten Elemente zersplittern. In einer Szene fehlt der einen Marie dank Filmtrick der Kopf. Von einem Moment zum anderen ist das Bild mal in dieser, mal in jener Farbe viragiert, dann schwarz-weiß, dann bunt, und zwar knallig.
Was diese Szenenfolge zusammenhält, ist keine Handlung, sondern sind Trieb und Leidenschaft, sind die schlingende Gier und die zerstörende Lust. Am Höhe- und Schlusspunkt des Films geraten Marie und Marie in einen sonst leeren Raum mit verführerisch gedeckter Tafel, über die sie herfallen wie ein Orkan. Sie werfen mit Torte, sie verwandeln das einladende Arrangement von Speis und Trank unterm Lüster, in dem sie bald selbst hängen, in ein Feld der Verwüstung. Hinterher stellen sie aus Scherben eine Art Ordnung wieder her. In den beiden Protagonistinnen verbinden sich schöpferische Kraft der Anarchie und erschöpfende Wut. Sie gehen einem als anarchisch-entropische Doppelfigur schwer auf die Nerven. Ihr Widerstand gegen die Wirklichkeit kennt keine Richtung, hat weder Sinn noch Verstand. Erst das aber macht Marie und Marie nicht nur im Prag des Jahrs 1966 zum Prinzip des Widerstands selbst.
EKKEHARD KNÖRER
■ Vera Chytilová: „Tauschendschönchen“. ČSSR 1966. Amazon.de: 19 € Die beim englischen Label Second Run erschienene DVD enthält unter anderem eine Dokumentation über die Regisseurin Vera Chytilová