: Erst die Moral, dann die Mathematik
WIRTSCHAFTEN Weniger Zahlen, mehr Werte: Der tschechische Ökonom Tomás Sedlácek erzählt in seinem Bestseller eine Kulturgeschichte der Ökonomie
VON JOHANNES GERNERT
Dieses Buch sollte man besonders dann lesen, wenn man sich zwischen morgennachrichtlichen Schuldenquotenständen und abendnachrichtlichen Defizitzahlen fragt, wie viele andere Menschen das alles verstehen. Denn das ist einer der Vorzüge der „Ökonomie von Gut und Böse“ von Tomás Sedlácek: Es ist ein Wirtschaftsbuch, in dem fast keine Zahlen auftauchen, dafür aber viele Werte.
Die Ökonomie, das ist eine seiner Kernaussagen, ist auch ohne die Mathematisierung denkbar. Oder: Es war einmal eine Wirtschaftswissenschaft, die war eine Philosophie, sogar: eine Moralphilosophie. Und weil das Denken der Ökonomie heute alle Bereiche des Lebens durchdringt, weil ihre Logik auch Kirchen oder Krankenhäuser nicht ausnimmt, deshalb dreht Sedlácek das Ganze um und untersucht die Ökonomie wie ein religiöses System.
Sedlácek lehrt an der Prager Karls-Universität, ist Chefökonom der tschechischen Handelsbank und hat Vaclav Havel beraten. Er bettet das aktuelle Wirtschaftssystem in einen so großen historischen Kontext mehrerer Jahrtausende ein, dass es angenehm klein dabei wirkt und weniger bedeutend als in den Rettungsfonds-Merkozy-News. So erzählt er eine moralphilosophische Wirtschaftsgeschichte der Menschheit, Betonung auf Moral.
Im Alten Testament entdeckt Sedlácek den ersten Konjunkturzyklus – in einem Traum des Pharaos, der Josef erzählt, er habe von sieben fetten und sieben mageren Kühen geträumt. Weil Josef den Traum als Warnung vor einer Dürre liest, diktiert er dem Pharao einen Sparplan, der die Hungersnot abwendet. Damit ist die Prophezeiung streng genommen eine falsche, weil das Wissen um die drohende Katastrophe sie abgewendet hat. Mit dem Traum verdeutlicht Sedlácek, was für eine schiefe Konstruktion das Grundgerüst der derzeitigen Wirtschaftswissenschaft sein kann. Es legt fast all seine Kraft in die Erkundung der Zukunft, der Grundmodus ist die Prognose. Wächst die Wirtschaft, steigt die Zuversicht?
Aber zu messen, ob die Prognosen auch zutreffen, ist äußerst schwierig, weil die Vorhersagen die Zukunft mitbeeinflussen. Wer behauptet, die Konjunktur werde brummen wie ein Dieseltruck, der bringt die Menschen vielleicht dadurch erst zum Einkaufen, die Firmen zum Investieren und hat dann recht, weil er’s ja prophezeit, aber eben auch mit zuversichtlichen Zahlen befördert hat.
Wenn alle Gutes tun
Sedlácek lässt die modische Wachstumskritik aus einem historisch-religiösen Fundament erwachsen. Er studiert die Bibel wie ein Wirtschaftsbuch und entdeckt in aktuellen Schuldenerlassen quasireligiöse Erlösungen, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Die Achse, auf der er die Träume des Pharaos oder die unsichtbare Hand des Adam Smith, die Diskussionen eines Thomas Malthus, John Locke oder John Maynard Keynes einordnet, bewegt sich zwischen den Polen von Gut und Böse.
In der Antike etwa stößt er auf die Hedonisten, die das Gute mit dem Nutzen gleichsetzen, ähnlich wie es aktuelle Wirtschaftstheorien tun. Der Homo oeconomicus, den sich Wirtschaftswissenschaftler vorstellen, ist ein Nutzenmaximierer: Der Mensch tut Dinge, weil er sich einen Nutzen von ihnen verspricht. Vielleicht, entgegnet Sedlácek, tut der Mensch aber auch einfach Gutes und man könnte ihn als Gutes-Maximierer betrachten. Sein Buch ist eine Kritik der ökonomischen Vernunft.
Geld vergleicht er mit Energie, eine Energie, die durch die Zeit reisen kann und Dinge in der Zukunft ermöglichen. Es sei eine gefährliche Form von Energie. Wie gut es etwa der Wirtschaft eines Landes geht, wird nach wie vor am BIP gemessen, dem Bruttoinlandsprodukt und seinem Wachstum. Mit neuen Schulden lässt sich das Wachstum steigern. „Was für einen Sinn hat es, den Reichtum zu messen“, fragt Sedlácek allerdings, „wenn man Kredite aufgenommen hat, um ihn zu erlangen?“
Die Mainstreamökonomie der Gegenwart ist ihm entschieden zu mechanistisch, getrieben von Gleichungen und Prognosen, deren tieferen Sinn die wenigsten hinterfragen. Rechnungen schließlich können sehr richtig sein, ihre Voraussetzungen aber völlig falsch. Aber was ist schon falsch – und was richtig?
Der Sozialtheoretiker Bernard Mandeville etwa beschreibt im 17. Jahrhundert in seinem Parabelheftchen vom „unzufriedenen Bienenstock“ eine tugendhafte Bienenwelt, alle tun nur Gutes. Ein ökonomischer Horror: Wer braucht noch Schmiede für Sicherheitstüren oder Ärzte für Leberschäden?
Es ist ein anregendes Buch voll schwerer Fragen. Und wenn es am Ende um die schwierigste aller Fragen geht, die nach den Alternativen, klingt Sedláceks Forderung einfach, aber auch wie ein etwas frommer Wunsch: Die Disziplinen, die Wirtschaftswissenschaftler, die Ethiker, müssten wieder mehr miteinander reden. Und dann?
■ Tomás Sedlácek: „Die Ökonomie von Gut und Böse“. Aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill. Carl Hanser Verlag, München 2012, 448 S., 24,90 Euro