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Archiv-Artikel

Europa ist gerettet!

Mit „Non“ oder „Nee“ ist eine europäische Einheit nicht aufzuhalten. Vergessen Sie die Turbulenzen! Bleiben Sie angeschnallt und warten Sie, bis der Kontinent seine endgültige Parkposition erreicht hat!

Die Französin, sie zickt. Der Holländer, er winkt ab. Ist ein vereintes Europa nun im Sumpf kleinlicher Sorgen stecken geblieben? Ist es gescheitert an der babylonischen Bürokratie in Brüssel? Hat die gemeinsame Währung abgewirtschaftet? Kann der Fahrplan eingehalten werden? Gemach, gemach! Ein alter Kontinent ist doch kein D-Zug.

Europa ist ein Selbstläufer, auch wenn die Ergebnisse demokratischer Teilhabe das Gegenteil signalisieren – die skeptischen Stimmen werden die Entwicklung nicht aufhalten, nicht einmal nennenswert bremsen können. Ein Supertanker kommt erst nach etwa 20 Kilometern zum Stehen – wenn der Kapitän eine Vollbremsung veranlasst. Was kümmert es da einen Dampfer wie Europa, wenn einige Offiziere auf der Brücke gerne ein paar Knoten langsamer fahren würden, weil ihnen der hohe Seegang der Globalisierung nicht behagt? Nur das gemeinsame Schiff kann diesen Wellen trotzen, nicht das verführerisch überschaubare nationalstaatliche Rettungsboot.

Europa wächst für jeden und jede im je eigenen Tempo, und das schon seit Jahrzehnten. Wer sich als Deutscher den Wert einer solchen Einheit vergegenwärtigen will, dem sei ein Blick auf das aberwitzig zersplitterte, paranoid partikulare Gewimmel einer deutschen Landkarte am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges empfohlen. Frei ist nur der Raum, der frei durchquert werden kann – weil das andere immer mitreist, und sei es auch nur als Sand in den Schuhen.

Pauschalreisen innerhalb Europas haben ohnehin zur Mediterranisierung der Öffentlichkeiten beigetragen: Frucht der Reisen nach Spanien und Italien, und zwar aus allen Ländern.

Europa braucht mehr, nicht weniger Autobahnen. Mobilität – zumal im Gefolge des Schengener Abkommens – ist hoch erwünscht. Mal gucken, wie’s da aussieht: Das ist das heimliche Projekt der meisten Europäer. Verstärkt wurde dieser unaufhaltsame Trend weniger mit weihevollen Reden denn durch Billiglinien wie Easy Jet, Ryanair oder Hapag Express: Ljubljana in drei Tagen – kostet nix und man kriegt einen schönen Eindruck von dem, was man erahnte, aber nicht kannte.

Autobahnen tragen viel zur friedlichen Neugiersättigung bei. Deshalb auch fährt niemand so rasch nach Polen. Ein Land, das groß, aber automobil eher unerschlossen ist.

Ein Vorläufer der neugierigen Europäer von heute waren in den Fünfzigern die Jugendverschickung, meist eher eine Verschickung angehender Akademiker. Dann, ab dem Ende der Sechziger, verschickte man sich selbst – per Interrail oder dem ausgestreckten Daumen am Straßenrand. Nicht Sehenswürdigkeiten waren interessant, sondern Atmosphären: Ach, so also ist Paris! Und das ist Lissabon?

Allmählich trauen sich auch jene Westeuropäer, die mit dem Eisernen Vorhang und einer breiten kulturellen Kluft aufgewachsen sind, in Länder wie Bulgarien, Moldau oder in die Türkei. Was sie von dort berichten, verblüfft: echt nette Leute da! Und, ach ja, auch billige Getränke, annehmbare Hotels …

Freies Reisen ist nur unter kapitalistischen Vorzeichen möglich: Geld macht Urlaub kalkulierbar, ohne Geld ist man nur auf Goodwill angewiesen. Heißt: Europa ist nicht zu stoppen – jeder Niederländer verlässt weiterhin gern sein Land.

Aber es fehlt natürlich an Symbolen gemeinsamer Art – für sie ist es möglicherweise noch zu früh: Ein repräsentatives Weißes Haus in sattem Dunkelblau, in dem eine Art säkulares Königspaar residiert, stellvertretend für alle Europäer, und in der „Europe One“ (natürlich ein Airbus A 380) zu Staatsbesuchen fliegt. Europa muss ein Glanz werden, an dem die Menschen teilhaben und stolz sein können: Das sind wir!

Der kulturelle Kompromiss – auch wegen Televoting – ist der Eurovision Song Contest: Man guckt sich an und hört sich seinen Teil. Kein Wunder, dass ständig neuerdings immer die neuen, hungrigen Länder gewinnen. Die reichen, wie Frankreich und die Niederlande, haben an und für sich genug.

Die heimliche Angst hinter dem Visa-Gerangel im Bundestag ist: Da könnten hunderttausende Tramper, Billigflieger und Automobilisten kommen – und uns erkunden, wie wir es früher auch gemacht haben. Der Osten will auch sein Tempo finden, aber das überfordert den Westen: Gerade er aber müsste lernen, dass man nur abwehrt, was man selbst mal war – eine Kohorte von Suchenden, Neugierigen und Testenden auf einem winzigen Vorgebirge der asiatischen Landmasse. MRA, JAF