berliner szenen: Die Katze sitzt auf einem Ast
Es klingelt an der Tür, und eine Frau fragt durch die Sprechanlage: „Entschuldigung, da schreit eine Katze im Baum, ist das Ihre? Es ist so kalt, die Katze erfriert da oben vielleicht.“ Ich ziehe mir meine Jacke über und gehe nach draußen. Unter dem Baum wird mir schon vom Hochsehen schwindelig. Die Katze sitzt auf einem Ast, höher als unser Haus, und schreit wie ein Baby. „Oje“, sage ich. „Die können wir so nicht herunterholen.“ Ein kleiner Junge kommt aus den Häusern gegenüber und sagt: „Das ist meine Katze.“
„Dann hol doch mal deine Mutter oder deinen Vater“, schlage ich vor. Der Junge nickt und verschwindet. Die Frau verabschiedet sich, nur ich stehe noch da, höre dem Schreien der Katze zu und warte auf den Jungen und seine Eltern. Als niemand kommt, gehe ich in den Hof des Hauses gegenüber, aber nichts. Seltsam, denke ich. Inzwischen sind mehr Leute stehen geblieben, ein Mann hat bereits die Feuerwehr gerufen. Sie kommt mit einem Leiterwagen, zwei Feuerwehrleute ziehen sich feste Handschuhe an und einer sagt: „Na dann holen wir den Klettermax mal.“ Als die Leiter ausgefahren wird und sie die verängstigte Katze vom Baum holen, ist der Junge immer noch nicht zu sehen. „Wer ist jetzt noch mal der Halter?“, fragt mich einer der Feuerwehrleute, ich sage: „Ein kleiner Junge, er wohnt da drüben.“ Der Mann zuckt die Achseln und sagt: „Nee, also wir suchen nicht. Dann kommt sie ins Tierheim.“
Am nächsten Tag begegne ich dem Jungen und sage: „He, wo warst du denn gestern? Deine Katze ist jetzt ins Tierheim gekommen.“ Er sieht auf seine Schuhe und sagt: „Meine Mutter meinte, wir müssen die Feuerwehr bezahlen, wenn sie wissen, dass es unsere Katze ist. Aber für so was haben wir kein Geld.“ Ich schlucke, und da sieht er mich an, als wäre sein Herz gebrochen.
Isobel Markus
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