wortwechsel: Solidarität mit Israel. Auch mit Kriegsverbrechen?
Vizekanzler Habeck spricht ein „Erklärwort“ der deutschen Staatsräson zur Solidarität mit Israel und gegen jede Form von Antisemitismus. Wurde die Rede der Kriegslage gerecht?
„Hamas-Angriff auf Israel: Viel Lob für Habeck-Video. Der Vizekanzler erklärt in einem Video Israels Sicherheit als deutsche „Staatsräson“ und verurteilt Antisemitismus – von links, rechts, von Muslimen“, taz vom 3. 11. 23
Situation in Palästina
Robert Habeck wird für seine Rede gelobt, mit der er die Nahost-Diskussion „entwirren“ wollte. Dabei hat er aber zwei wichtige Unterscheidungen leider nicht gemacht: Wenn ich an die jahrzehntelange Vorgeschichte der heutigen Kriegssituation im Gazastreifen erinnere, wenn ich die Politik Israels gegenüber den Palästinensern kritisiere – die anfängliche Vertreibung der dort ansässigen Palästinenser in perspektivlose Flüchtlingslager, dann die Unterdrückung der Palästinenser im Staat Israel und im Westjordanland und die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik im Westjordanland und die kompromisslose Ablehnung einer Zweistaaten-Lösung – dann bin ich doch kein rassistischer Antisemit! Es gibt viele jüdische Intellektuelle, die ebenfalls ihre Regierung im Hinblick auf die Palästinenser scharf kritisieren. Und wenn ich Solidarität mit den Palästinensern empfinde oder ausdrücke, verurteile ich trotzdem die brutalen Aktionen der Hamas, von denen sich übrigens auch die palästinensische Regierung im Westjordanland inzwischen distanziert. Ich bitte die taz, diese wichtigen Unterscheidungen publik zu machen. Nur so kann auch unsere innenpolitische Situation ‚entwirrt‘ werden.
Gerhard Breidenstein, Traunstein
Völkerrecht und Schuld
So gut die Ansprache gegen Antisemitismus von Habeck ist, es fehlt der Bezug zum jetzigen Geschehen in Gaza, in dem ein Massensterben unter israelischen Bomben stattfindet. Es ist eben kein Antisemitismus, das völkerrechtswidrige Vorgehen Israels in der Kriegsführung in Gaza und der Westbank anzuklagen. Die deutsche Schuld an den Juden wird nicht dadurch kleiner, dass die deutsche Regierung zum Völkerrechtsbruch der rechtsextremen Regierung in Gaza und dem Westjordanland sowie der Repression gegen kritische Stimmen schweigt. Israel muss die Hamas als Terrororganisation konsequent bekämpfen, aber im Rahmen des humanitären Völkerrechts. Da Israel und Palästina beide ein Existenzrecht haben, kann Israel nur mit und nicht gegen die Palästinenser in Sicherheit leben. Rinaldo auf taz.de
Rede zur Staatsräson: Heiland Habeck. Echt jetzt? Robert Habeck sagte, was immer wieder gesagt werden muss und immer wieder gesagt wird. Er hätte aber auch ansprechen müssen, was gerade abgesagt wird“, wochentaz vom 4. 11. 23
Die Sicherheit Israels
Israel konnte noch nie die Sicherheit aller Jüdinnen und Juden in dieser Welt gewährleisten. Was für eine vermessene Forderung und Diskussion – und das von Leuten, die sich tausende Kilometer von Israel entfernt in ihren Sofas fläzen. Israel war und ist vor allem ein Versprechen, eine Heimstatt für Jüdinnen und Juden zu sein, die sich nicht wieder als Opfer zur Schlachtbank führen lassen wollen – aus der historischen Erfahrung, dass die Welt sie nicht schützen wird, wenn es hart auf hart kommt. Dass Eigeninteressen anderer Staaten immer Vorrang haben werden für das Handeln dieser Länder und dass wohlfeile Reden, Gedenkveranstaltungen in schwarzer Kleidung, mit Kerzen und getragener Musik, Petitionen und Demonstrationen keine einzige Jüdin und keinen einzigen Juden retten werden vor Angriffen auf Leib und Leben. Das erklärt die aktuelle Haltung des politischen Israels über die gegnerischen Parteigrenzen hinweg, dass Israel auch diesmal ausschließlich selbst die Verantwortung für das eigene Überleben trägt. Markus Wendt
Was ist Antisemitismus?
Habecks klare Rede hat nicht genau bestimmt, was er unter Antisemitismus versteht. Gewalt- und Terrorverherrlichung sowie tätliche Angriffe auf deutsche Jüdinnen und Juden sind Straftaten – mit dem Begriff Antisemitismus jedoch ist es komplizierter. So haben circa hundert israelische Soziolog*innen in der „Jerusalem Declaration of Antisemitism“ (JDA) die auch vom deutschen Bundestag verwendete Antisemitismus-Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) bezüglich Israelkritik/Antisemitismus entscheidend modifiziert. Während beispielsweise die IHRA die Behauptung, „die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“, als antisemitisch einstuft, sagt die JDA, dass es „nicht per se antisemitisch ist, auf systematische rassistische Diskriminierung hinzuweisen“. Problematisch ist angesichts der Multikulturalität und Diversität der Bevölkerung Israels auch, dass die IHRA von Antisemitismus spricht, wenn sich Kritik „gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richtet“. Die JDA erklärt hingegen, dass „der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch“ ist. IHRA und JDA sind sich allerdings darin einig, dass man von Antisemitismus sprechen muss, wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland für das Handeln der israelischen Regierung „pauschal“ verantwortlich gemacht werden.
Wolfgang Martin, Oldenburg
Man muss die Rede weder hochjubeln noch abwerten. Sie war hoch notwendig angesichts der hiesigen schrecklichen Stille und Indifferenz. Habeck kann nichts dafür, dass Selbstverständlichkeiten neu gesagt werden müssen. Er kann auch nichts von oben versprechen, was nur die ganze Gesellschaft oder wenigstens klare Mehrheiten leisten könnten.
Benedikt Bräutigam
Mit sehr, sehr guten Gründen, gibt es sehr viele Menschen, die über so viele Dinge so tief erschüttert sind, dass sich doch etwas tun müsste. Aber es tut sich nichts. Vielleicht ist ja das ganze Denken falsch, nach der richtigen Rede und Lösung zu suchen, die alle Menschen mitnimmt. Vielleicht werden wir noch endlos, hilflos vor all unseren so klaren und echten Gefühlen stehen. Markus Michaelis
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