berliner szenen: Ich werde Lady, wenn ich alt bin
In der U3 ist es stickig. Wenn sich die Türen öffnen und neue Fahrgäste den Waggon betreten, stöhnen sie oder ziehen Gesichter. W. und ich waren an der Krummen Lanke und sind jetzt mit feuchten Haaren auf dem Weg zum Nollendorfplatz. Während W. mir von ihrem letzten Date erzählt, hängt mein Blick an drei älteren Frauen uns gegenüber. Sie wirken wie aus dem Italien der 50er Jahre entsprungen. Alle drei tragen retro anmutende geblümte Sommerkleider, haben ihre Haare schwarz gefärbt, sich ihre Augenbrauen dunkel und den Mund rot angemalt und fächeln sich mit bunten Fächern Luft zu. So nebeneinander sehen sie aus, als wären sie aus der Zeit gefallen und in die U-Bahn gesetzt worden. Keine von ihnen spricht. Vielleicht sind sie Schwestern, so vertraut, wie sie sind. Ab und zu lächelt die eine herüber, und ich lächele zurück.
Eine Frau mit Kinderwagen stellt sich neben die Tür und spricht mit ihrem Baby, das einen nackten Fuß in den Mund nimmt. Die drei Damen gegenüber amüsiert das. Sie winken und fächeln herüber, um des Babys Aufmerksamkeit zu erhalten, aber es sieht nur die Mutter und lutscht am großen Zeh. Die Mutter holt eine fast leere Packung Feuchttücher hervor und beginnt dem Kind damit Luft zuzufächeln, bis ihr eine der drei Schwestern ihren Fächer reicht. Die Mutter wehrt ab, nimmt ihn aber doch, weil die alte Dame gestenreich insistiert. Das Baby steckt sein Gesicht in den Luftzug und versucht nach dem Fächer zu greifen.
Am Heidelberger Platz stehen die drei Schwestern auf. Die Mutter möchte den Fächer zurückgeben, aber die alte Dame wehrt vehement ab: „No, no, no.“ Als die Bahn weiterfährt, sagt die Mutter zum Baby: „Wenn ich alt bin, werde ich auch eine Lady mit Fächer. Den Fächer haben wir ja jetzt schon mal. Das mit der Lady muss ich noch üben.“ Isobel Markus
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